Sieglinde Jörg

Treue Seelen

Josef stand am Zapfhahn. Er war nicht mit Schönheit gesegnet. Er hatte ein rundes Gesicht, war kleiner und dick und hatte zu breite Schultern. Seine Frisur war schief geschnitten und wenn er lächelte, fiel sofort sein abgebrochener Schneidezahn auf. Josef hatte gute Laune. Die Jungs und Mädels im Ausschank waren alle gut drauf. Es wurde Bier gezapft und Blödsinn geredet. Das gefiel ihm. Außerdem war heute eine Neue dabei. Sie war von weiter her und mit Dieter befreundet. Sie gefiel ihm gleich. Er fand sie sehr hübsch mit ihrem schmalen Gesicht, der Metallbrille, die kaum auffiel, und ihrem strahlenden Lächeln. Selbst wenn sie nicht lächelte war sie einfach nur schön. Ein Teil der Mannschaft machte Pause. Und kurz nachdem sie gegangen waren, kam der große Ansturm. Josef ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Da er nicht vorneweg schon ein paar Bier gezapft hatte, kam er natürlich nicht hinterher. Er bekam einen roten Kopf, aber es dauerte, so lange es eben dauerte. Die Leute wurden ungeduldig, aber auch die schöne Neue ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Niemand beschwerte sich laut. Nur einmal meinte jemand, ob denn da nicht noch mehr Leute zapfen könnten. Die Neue hatte einen langen Tag gehabt und konnte sich heute nicht mehrere Bestellungen auf einmal merken. Um nicht durcheinander zu kommen und weil es sowieso nicht schneller ging, wartete sie, bis Josef so nach und nach ein Bier rausgeben konnte. Sie ärgerte sich über Josef, aber ändern ließ sich jetzt auch nichts mehr. Mit Dieter war der Ausschank angenehmer, da er im Voraus zapfte und so die Bestellungen schneller raus gingen. Aber Josef blieb trotzdem fröhlich. Er lachte, nachdem die

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leute weg waren und es ruhiger wurde. Seine Augen waren von hellerem Braun und konnten Gefühle nur wenig zeigen, auch wenn er strahlte. Sie waren auch nicht sonderlich beweglich. Josef, die Frohnatur. Er war bestimmt häufig einsam. Er machte Witze und freute sich, wenn die Neue auch lachte. Der Kumpane, der neben ihm zapfte, war zwar auch gut drauf, aber sein Gesicht und seine großen, blauen Augen, die etwas glasig aussahen, zeigten manchmal Spuren von einsamer Traurigkeit. Als eine dickere Blonde, die sich mit Bekannten vor dem Ausschank aufhielt, verabschiedete, sagte er kaum hörbar vor sich hin: „Jetzt geht sie. Sie geht einfach.“ Er sah sehr traurig aus und blickte ihr fassungslos hinterher. Niemand sah seine Einsamkeit. Wie viel Liebe und Zärtlichkeit hätte er zu geben? Er wäre treuer und anspruchsloser als viele andere. Er würde wahrhaft lieben. Die Nacht wurde lang. Um drei Uhr, als die letzten endlich betrunken von dannen wankten, machten sie den Ausschank zu. Bis dahin hatte die ganze Mannschaft selbst genug getrunken – bis auf die Neue. Die war noch ziemlich nüchtern. Es war erstaunlich, dass die Jungs ihren Job trotzdem gut machten. Langsam, wankend, aber ordentlich. Als Gläser und Kisten aufgeräumt und der Ausschank zugeklappt und abgeschlossen war, standen sie noch draußen zusammen: Dieter und seine Bekannte, Josef und sein Kumpane. Die anderen Mädels waren schon gegangen. Der Veranstalter kam auch noch vorbei und holte die Kasse ab. Josef war glücklich. Er dachte, sie würden jetzt noch zusammen auf den Bierbänken sitzen und reden. Er setzte zu einem Kompliment an. Er strahlte. Er sagte: „Das war ein schöner Abend. Das macht gleich viel mehr Spaß, wenn so eine schöne...“, er sprach nicht weiter. Er bekam ein Lächeln dafür und wurde rot. Die Enttäuschung war

 

 

 

 

 

 

 

 

 

groß, als die schöne Neue deutlich machte, dass sie nicht mehr könne und jetzt gern gehen wolle. Ihr war kalt und sie konnte kaum noch stehen. Sie fand es unverschämt, dass Dieter erst sein Bier leer trinken wollte. Sie fand, er könne sich jetzt um die Unterkunft bemühen. Sie war ja auch weit gefahren. Und sie hatte bis zum Schluss durchgehalten. Hatte in zunehmend betrunkene Gesichter gesehen. Aber sie hatte sich auch gefreut. Sie hatte sich gefreut, dass sie den Menschen ein wenig Freude hatte schenken können. Sie hatte irgendetwas an sich, was die Menschen, egal, ob Mann oder Frau, verzauberte. Die meisten vergaßen für diesen Moment all ihre Sorgen. Dass sie an diesem Abend langsam rechnete, störte vereinzelt das Bild. Enttäuschte Erwartungen. Sie hat normalerweise einen flinken Geist. Doch viele kamen wieder, nur um wenige Worte mit ihr wechseln zu können.

Sie standen jetzt im Kreis und diskutierten, ob letztes Jahr mehr los gewesen sei. Schließlich verabschiedeten sie sich, alle gaben sich die Hand. Josef hätte so gerne noch mit allen zusammengesessen. Er akzeptierte mit hoch gezogenen Brauen, dass alle schlafen wollten. Er hatte sie nicht einmal auf einen Schnaps überreden können. Und sein Kumpane, der immer noch einen Anflug von einsamer Traurigkeit trug, hätte so gerne noch mit allen zusammen Wein getrunken. Statt ihm diese kleine Freude zu erweisen, erklärten sie ihm, dass sie sich aus Wein nichts machten. Er zuckte die Schultern. Blieb mit seinen Wünschen allein. Jeder ging seiner Wege. Nur Dieter hatte Glück. Aus der Bekanntschaft wurde eine tiefe Verbundenheit. Obwohl auch Dieter nicht schön war. Er hatte eine Glatze, war klein und hatte einen Bauch. Aber er war ein Lieber. Er konnte im richtigen Moment ernst sein. Sie fühlte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

sich wohl in seinem Arm. Trotz Bierausschank. Trotz Dorfbetrunkener. Hier waren die Menschen noch ehrlich. Sie waren echt und ungeschminkt. Da wo sie herkommt, hatte man sich zu benehmen. Man schaute in aufgesetzte Mienen und redete über Kunst und Politik, nicht aber über das Leben, nicht aber über Gefühle. Hier waren die Leute lieb zueinander. Und ehrlich. Es gab keine lauten Auseinandersetzungen. Josef drehte sich noch einmal um und sah ihnen nach. So ein schöner Tag mitten in der Nacht.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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