Sven Eisenberger

Kleines Rädchen

Als solitäre Erscheinung wird man ihn sicher heute noch vorfinden: den Typus des Lehrers, der sämtliche Klischeevorstellungen bedient, den durch „fehlerhafte Ausbildung an Kopf und Herzen verwahrlosten“ Kinderschreck. Vermutlich sind auch jedem aus der eigenen Schulzeit schreckensreiche Lehr-Beispiele mit wenigstens kritikwürdiger oder auch gänzlich fehlender Berufsauffassung in lebhafter Erinnerung. Ebenso mag es sein, dass die beamtenrechtliche Absicherung der Lehrerstellung dem Vorschub leistet, aber derartige Erscheinungen lassen sich schließlich in jedem Berufszweig finden. Repräsentativ waren diese Fälle meines Eindrucks nach weder früher, noch sind sie es heute.
Zudem sind die beständigen Jeremiaden zum Bildungsnotstand in diesem Lande schon längst kaum weniger langweilig und nervtötend als Diskussionen um Sozialmissbrauch oder die Reform der Arbeitsgesellschaft, da sie regelmäßig den Problemkern verfehlen und an keiner Stelle ein intellektuelles Niveau erreichen, das die Auseinandersetzung lohnte. Wenn man genauer hinschaut, wird man entdecken, dass es sich um alte Hüte handelt, die in gewollter Unlustigkeit immer wieder verkehrt herum aufgesetzt werden. Schon in den frühen 1980er Jahren herrschte nicht nur in den Kreisen der ´Bildungsspießer´ Konsens darüber, dass die Allgemeine Hochschulreife inflationär entwertet würde und Abiturienten über einen weit geringeren Bildungsstand verfügten als zehn Jahre zuvor. Stellt sich nur die Frage, woher dann heute all die exzellenten Nachwuchsforscher kommen, für die es kaum noch Professorenstellen gibt, oder jene einfallsreichen Ingenieure und Facharbeiter, die zum florierenden Exportgeschäft beitragen?

Spätestens seit Paul de Lagarde pfeift der bürgerliche Kuckuck hierzulande mit Vorliebe kulturpessimistische Melodien, und der Kassandraruf der Verfallstheoretiker erschallt jeder Schülergeneration, sofern nicht gerade auferstanden aus Ruinen, aufs Neue. Ich will nicht ausschließen, dass deutsche Schulen im internationalen Vergleich mittlerweile tatsächlich nur noch Mittelmaß sind, obwohl ich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Empirikern immer für angebracht halte und die Vorstellung, dass am deutschen Schulwesen die Welt nicht genesen wird, nicht im mindesten beunruhigend finde. Nebbich! Nehmen sich die Folgen eines deutschen Sonderwegs, der in die allenthalben beschworene "Bildungskatastrophe" führt, in historischer Perspektive doch vergleichsweise harmlos aus. Andererseits ist vielleicht tatsächlich kein Zynismus angebracht, wenn festgestellt wird, dass Schulabgänger in steigender Zahl nicht einmal mehr richtig lesen und schreiben können. Gut möglich, dass auch meine Kinder einmal in einer ´Game-Show´ sitzen und es überhaupt nicht peinlich finden werden, Karl Marx für einen Bruder von Groucho (immerhin!) oder den Mitbegründer einer englischen Kaufhauskette (´Marx & Sparx´ - alle Achtung!) zu halten. Aber warum sollten sie auch nicht, zählt für sie doch vor allem die interne Logik des Vergleichs mit ihren Altersgenossen. Und der ist allemal interessanter als die Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die sich wochenlang mit der Frage beschäftigt, welche Talk-Show von wem übernommen wird, ohne zu realisieren, dass ein Vakuum sich nicht durch ein anderes füllen lässt. Müßig, hierüber noch ein weiteres Wort zu verlieren. Da finde ich die Frage, warum Schule unter diesen Rahmenbedingungen überhaupt noch funktioniert, weitaus interessanter als die Klage darüber, dass offenbar so vieles misslingt und so viele scheitern.

Ganz gleich, in welchem Teil des knirschenden Riesengetriebes ich kleines Rädchen auch eingeschraubt sein mag - den schiefen ´Lauf der Dinge´ werde ich nicht im mindesten beeinflussen können. Angesichts dessen zu resignieren oder zu kapitulieren, überlasse ich aber gerne anderen, denn für mich enthält diese Erkenntnis etwas Befreiendes. „I am the passenger, and I ride and ride…“ Wohin es mich auch verschlagen mag, ich werde nicht versagen können, weil alles so bleibt wie es zuvor gewesen. Dem eigenen Antrieb zu folgen, gestattet mir die Freiheit, Neues auszuprobieren und die ´Laufrichtung´ zu ändern. Was ich tue, ist nur für mich und meine Schüler, bestenfalls noch für einige interessierte Außenstehende wichtig. Das ist das einzige, worauf es ankommt, und nur auf diesem kleinen Felde muss ich mich beweisen. Alles andere passiert sowieso oder auch nicht. Und doch ist es eine große Aufgabe, sich auf den kleinsten Wirkungskreis zu beschränken und genau dort Fenster zu öffnen, wo im Konstruktionsplan nur Wände vorgesehen sind. „What more can I expect?“

(Auszug aus dem "Lehrerspiel", 2007)

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