Diethelm Reiner Kaminski

Vogelhaus

Janine hatte nachmittags ihre Freundinnen Klara und Antje zu Besuch. „Wir machen unsere Hausaufgaben zusammen“, hatte sie ihrem Vater gesagt. „Dann machen wir weniger Fehler. Wir helfen uns gegenseitig.“

„Das finde ich gut. Ihr solltet euch häufiger verabreden. Teamarbeit ist heutzutage wichtig. Das kann man nicht früh genug üben.“

Nach Hausaufgaben machen klangen die Geräusche nicht, die aus Janines Zimmer ins Arbeitszimmer ihres Vaters drangen, eher nach Herumalberei und Balgerei. Nachdem er sich das Lärmen und Schreien, Quieken und Lachen eine Zeitlang angehört hatte, ging er doch hinüber zu den Dreien, klopfte und sagte, nachdem ihm Janine die Tür geöffnet hatte: „Ihr scheint besonders lautstarke Hausaufgaben aufgekriegt zu haben. Was ist denn nur los mit euch? Ihr seid heute so hühnerig. Ich kann nicht arbeiten bei dem Krach.“

„Wir sind schon fertig“, sagte Klara. „Wir hatten nicht viel auf. Aber was bedeutet ‚hühnerig‘?“

„Na ja, ihr gackert die ganze Zeit, ihr seid so aufgekratzt, flattert wie wild herum, wie Hühner in einem Hühnerstall halt. Geht es vielleicht ein bisschen leiser?“

Kaum war Janines Vater gegangen, kicherten und prusteten die Mädchen wieder los.

„Hühnerig … Ich lach mich schlapp“, sagte Antje. „Du hast einen lustigen Vater. Nur etwas kräherich.“

Das Stichwort war gefallen, und die Mädchen probierten weitere Vogelnamen aus, alle, die ihnen einfielen.

„Frau Bitterkraut, Sie sind heute so spatzelich, haben Sie noch nicht gefrühstückt?“ Frau Bitterkraut war die Naturkundelehrerin, eine kleine unscheinbare dürre Frau, kaum größer als die meisten Schüler.

„Morgen haben wir wieder diese elsterige Piontek. Eine Stimme hat die wie ein kaputter Blecheimer.“

„Und immer schlechte Laune“, ergänzte Janine.

„Am meisten mag ich die Schönfeld. Sie ist, wie soll ich sagen, so amselig“, warf Klara ein.

„Weil sie fast immer schwarze Klamotten trägt?“, fragte Antje.

„Nö, sie hat eine so eintönige Stimme. Wenn sie lange redet, schlafe ich immer ein“, behauptete Janine.

*

Zu Beginn der Deutschstunde erläuterte Frau Schönfeld das Stundenziel:

„Wir suchen heute Adjektive mit den Endungen -ig und -lich. Beide werden wie ‚ch‘ ausgesprochen. Ihr müsst also auf die Schreibung achten. Wie überprüfen wir diese? Karin?“

„Indem wir das Wort erweitern, z. B. ‚zickig“ – „die zickige Schwester“.

„Sehr gut“, lobte Frau Schönfeld ihre beste Schülerin. Sie schrieb „zickig“ in die linke Spalte unter die Endung -ig und ‚friedlich“ unter die Endung –lich in die rechte Spalte. „Und nun bitte weitere Beispiele. Wer ein Wort weiß, kommt an die Tafel und trägt es in die Liste ein.“

Es war die erste Stunde, und die meisten Schülerinnen und Schüler waren noch nicht richtig wach. Nur Klara, Antje und Janine meldeten sich wie wild und gingen nacheinander und mehrmals an die Tafel. Die Liste füllte sich: amselig, spatzelich, meiselich, kräherich, elsterig …

Gerade wollte Janine das Wort „hühnerig“ anschreiben, aber nach den beiden ersten Buchstaben „h“ und „ü“ wurde sie von Frau Schönfeld unterbrochen. „Sind wir hier im Vogelhaus, oder was? Wer hat euch denn solche unmöglichen Wörter in die Köpfe gesetzt? Wollt ihr mich auf den Arm nehmen? Birgit, Tafel löschen, aber schnell. Schlagt eure Bücher auf, Seite 85. Sucht dort Wörter auf –ig und –lich heraus und schreibt sie in eure Hefte.“

*

„Die Amsel war ja heute ganz schön elsterig“, sagte Antje in der Pause.

„Statt uns zu loben, dass wir so viele tolle Wörter gefunden haben …“

„Lehrer sind und bleiben nun mal zickig“, seufzte Janine.

„Und ohne Fantasie“, sagte Klara.

„Und Vögel mögen sie, glaube ich, auch nicht besonders.“

„Vielleicht weil sie selber so komische Vögel sind. Jedenfalls hühneriger als wir“, sagte Janine. Die Klingel verkündete das Ende der Pause. „Kommt, wir müssen zurück in den Vogelbauer. Unser Spatz wird sauer, wenn wir zu spät kommen.“

04 - 02 - 2012

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Diethelm Reiner Kaminski).
Der Beitrag wurde von Diethelm Reiner Kaminski auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.05.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Diethelm Reiner Kaminski als Lieblingsautor markieren

Buch von Diethelm Reiner Kaminski:

cover

Von Schindludern und Fliedermäusen: Unglaubliche Geschichten um Großvater, Ole und Irmi von Diethelm Reiner Kaminski



Erzieht Großvater seine Enkel Ole und Irmi, oder erziehen Ole und Irmi ihren Großvater?
Das ist nicht immer leicht zu entscheiden in den 48 munteren Geschichten.

Auf jeden Fall ist Großvater ebenso gut im Lügen und Erfinden von fantastischen Erlebnissen im Fahrstuhl, auf dem Mond, in Afrika oder auf dem heimischen Gemüsemarkt wie Ole und Irmi im Erfinden von Spielen oder Ausreden.
Erfolgreich wehren sie mit vereinten Kinderkräften Großvaters unermüdliche Erziehungsversuche ab.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Leben mit Kindern" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Diethelm Reiner Kaminski

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Mungos von Diethelm Reiner Kaminski (Leben mit Kindern)
Glück macht reich von Karin Ernst (Leben mit Kindern)
Der kleine Bär von Helmut Wendelken (Tiergeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen