Christiane Mielck-Retzdorff

Glockenblumen

 

 

Levina lernte sehr konzentriert für das mündliche Abitur in Fach Deutsch. Sie war allein in dem Haus, denn ihre Eltern und der Bruder waren in ihre Wohnung an der Ostsee gefahren, wo Vater und Sohn an einer Segelregatta teilnahmen. Es war Anfang Mai, die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, leichter Wind streichelte die sprießenden Blätter und der Tag lud geradezu ein, ihn an der frischen Luft zu genießen.

Aber die junge Frau war sehr ehrgeizig. Sie hatte in allen Abiturarbeiten die maximale Punktzahl erreicht, nur in Deutsch nicht. Das musste sie unbedingt durch eine herausragende Leistung in der mündlichen Prüfung korrigieren. Zwar lag ihr Talent weniger im sprachlichen als im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, doch sie wollte ein Abschlusszeugnis vorweisen können, dass auf keinem Gebiet Zweifel an ihrem Fachwissen aufkommen ließ.

Der Umgang mit Zahlen und logischen Abläufen fiel ihr leicht, aber für Literatur und die schönen Künste begeisterte sie sich überhaupt nicht. Für Levina waren alle Tätigkeiten, die keinen praktischen Sinn für die Menschen erfüllten, überflüssig. Kein Gedicht und keine Serenade hatte jemals etwas Bedeutendes bewirkt. Kunst diente ausschließlich der Ablenkung von wichtigen Dingen. Doch der Lehrplan des Gymnasiums zwang sie, sich auch damit auseinanderzusetzen.

Ausgerechnet die Romantik war Thema ihrer mündlichen Prüfung. Als sie dieses erfuhr, keimte Wut in ihr, aber dann sagte sie sich, dass jede Herausforderung zu bewältigen war, wenn Fleiß und Verstand sich paarten. Sie empfand es als lästig, sich mit Texten, die sich um Gefühle, Selbstfindung und mystische Gestalten drehten, zu beschäftigen. Nur ihre Ehrgeiz und das Bewusstsein, sich nach dem Abitur endliche nur mit sachlichen Themen beschäftigen zu können, trieben sie an.

Es ärgerte die junge Frau, dass es ihr so schwer fiel, Zugang zur romantischen Literatur zu finden. Menschliche Dramen, unsterbliche Liebe, märchenhafte Entwicklungen, die Suche nach dem Sinn des Lebens und die Grauen erzeugenden Darstellungen des Bösen überforderten ihr klar strukturiertes Denken. Doch sie wollte sich nicht geschlagen geben. Es musste einen Weg geben, wenigstens für die mündliche Prüfung einen überzeugenden Vortrag zu erarbeiten.

Plötzlich klingelte es an der Haustür. Levina missfiel diese Störung, doch sie verließ ihr Zimmer, um nachzusehen, wem sie die Unterbrechung ihrer Studien zu verdanken hatte. Als sie öffnete, konnte sie keine Person erblicken. Dann sah sie auf der Fußmatte einen kleinen Topf mit Blumen stehen. Vermutlich die freundliche Gabe einer der Freundinnen ihrer Mutter. Sie griff nach der Topfpflanze, schaute sich noch einmal um, ob sie jemanden entdecken konnte und ging wieder in ihr Zimmer. Erst dort bemerkte sie, dass sie die Blume mitgenommen hatte. Gleichgültig stellte sie diese auf die Fensterbank in die Sonne. Dann wendete sie sich wieder ihrer Lektüre zu.

Schon stundenlang saß sie über den Büchern und langsam begann die junge Frau zu schwitzen. Sie stand auf, um ein Fenster zu öffnen, wobei sie zuerst die Pflanze in die Hand nehmen musste, weil diese ihm Weg stand. Ein leicht kühles Lüftchen drang in das Zimmer. Sie atmete tief durch. Es roch nach Frühling. Einige Vögel sangen. Einen Moment lang gab sie sich dem Genuss der Natur hin, bis ihre Vernunft sie zurück an den Schreibtisch rief. Die Blume stellte sie zurück auf die Bank vor dem geöffneten Fenster.

Kurz streifte ihr Blick das Smartphone und den Laptop. Beide hatte sie ausgestellt. Bestimmt wollten einige ihrer Klassenkameraden sie in ein Café oder den Park locken, aber keine Versuchung sollte sie von ihrem Plan abbringen. Dieses war der Endspurt auf dem Gymnasium, bei dem sie nicht schwächeln durfte, denn nach dem Erreichen ihres ehrgeizigen Ziels wollte Levina unbedingt Karriere machen. Nichts und niemand sollte sie daran hindern.

Versunken in die Texte fühlte sie plötzlich wie ein zarter Windhauch durch ihr Haar streifte. Sie schaute zum Fenster und sah die üppige Topfpflanze in einem betörenden Lila leuchten. Ihre Blüten strahlten geradezu im Sonnenlicht. Eine ferne Erinnerung drängte sich in das Bewusstsein der jungen Frau. Es waren die bunten Gärten in Cornwall.

 

Damals war sie 14 Jahre alt gewesen. Ihre Eltern hatten sie auf eine Reise nach England geschickt, wo sie durch die Unterbringung in einer Gastfamilie und täglichen Unterricht ihre Sprachkenntnisse verbessern sollte. Also war Levina in den ersten drei Wochen der Sommerferien zum ersten Mal allein in der Fremde.

Das ältere Ehepaar, bei dem sie wohnte, war sehr freundlich. Diese hegten und pflegten auch einen stattlichen Garten mit der reinsten Blütenpracht. Doch Levinas Aufmerksamkeit weckte eher ein 16jähriger Nachbarsjunge, der ihr schon nach wenigen Tagen dezent den Hof machte. Seine strahlend blauen Augen, sein oft zu einem Lächeln geformter Mund, seine hellblond gelockten Haare und sein unaufdringliches Wesen zogen Levina magisch an. Nie vorher hatte sie sich verliebt, aber dieser Halbwüchsige weckte Sehnsüchte ihn ihr.

Bald trafen sie sich an verborgenen Orten. Der Junge namens Joseph, genannt Joe, machte ihr Komplimente über ihr Aussehen, ihre grazilen Bewegungen und ihre elfengleiche Ausstrahlung, auch wenn sie seine Worte anfangs noch nicht ganz verstand. Doch sie fühlte seine Zuneigung und erwiderte diese. Er pflückte Blumen und flocht daraus Kränze für sie. Wenn er seine Gitarre mitbrachte, sang er romantische Lieder. Nebeneinander lagen sie im Gras, beobachteten die Wolken, lauschten dem Summen der Bienen und dem Rascheln der Blätter im Wind.

Beide waren schüchtern und fürchteten sich davor, den Zauber ihres Zusammenseins durch plumpe Handlungen zu zerstören. So küssten sie sich nicht, sondern beließen es bei zarten, zufälligen Berührungen. In der Sprachschule kreisten Levinas Gedanken nur um Joe und ihr nächstes Treffen. Dass sie durch ihn ganz nebenbei auch noch Englisch lernte, war ihr nicht bewusst.

Sie war bis über beide Ohren verliebt, sah in Joe den strahlenden Ritter, der Licht in ihren Kerker der Alltäglichkeit zauberte. Er führte sie ans Meer, wo zerklüftete Felsen senkrecht hinabstützten. Der Blick in die Tiefe ängstigte sie nicht, denn ihre Gedanken flogen schwerelos. Solange Joe an ihrer Seite war, verlangte das Leben nichts weiter als zu atmen und zu genießen. Levinas Träume wurden zu Segelbooten, die lautlos über das tiefblaue Wasser in die Ferne glitten, flogen mit den Vögeln der Sonne entgegen, verbanden sich mit der Erde zu einem Teppich aus bunten Blumen.

Dann kam der Abschied. Zum ersten Mal umarmten sich die Liebenden, schiegten ihre Körper aneinander, als wollten sie verschmelzen. Levinas Tränen benetzten das Hemd von Joe. Schließlich fanden sich ihre Lippen zu einem zarten Kuss. Nur das innige Versprechen, per E-Mail in Kontakt zu bleiben, verschaffte ihrem Schmerz etwas Linderung. Wahre Liebe trotzte jeder Trennung.

Täglich fieberte Levina in ihrer Heimat den Nachrichten von Joe entgegen, die auch zuverlässig eintrafen. Um diese verstehen zu können, bemühte sie ein Übersetzungsprogramm, stellte aber schnell fest, dass dieses kaum den romantischen Worten gerecht wurde. Und auch für ihre sehnsuchtsvollen Antworten eignete sich das Programm nur bedingt. Also wälzte sie Wörterbücher und beschaffte sich englische Literatur. In ihrem Geist malte sie Bilder ihrer Gefühle. Der Herausforderung, diese liebevoll auszudrücken, stellte sie sich mit der ganzen Kraft ihres Herzens.

Zwar erfüllte sie ihre täglichen Pflichten, doch ihre Gedanken klebten an Joe. Sein Antlitz begleitete Levina in ihren Träumen, seine Stimme klang in ihrer Seele. Er war das Zentrum ihres Lebens, der Mann dem sie sich zu Füßen werfen wollte. Allein das Bewusstsein, dass er existierte, ließ in ihr die Sonne scheinen.

Auch wenn die Eltern eine Veränderung an ihrer Tochter bemerkten und diese dazu befragten, behielt Levina ihr Treffen mit Joe und die daraus erwachsene Liebe für sich. Nur durch Geheimhaltung konnte sie den Zauber bewahren. Auch ihre Freundinnen weihte sie nicht ein. Der kostbare Schatz sollte ihr allein gehören.

Dann kam kurz nach der Jahreswende die alles zerstörende Nachricht. Joe hatte sich in eine andere junge Frau verliebt. Dieses schrieb er ganz sachlich, offensichtlich ohne Bedauern. Für Levina brach eine Welt zusammen. Sie meinte, den Sinn ihres Lebens verloren zu haben. Täglich starrte sie von Trostlosigkeit umfangen auf ihr Laptop, hoffte, Joe würde seinen Irrtum erkennen und sie weiter mit romantisch schmeichelnden Worten umgarnen. Vergeblich.

Sie vergoss unzählige Tränen. Der Himmel, die Wolken, die Bäume und Blumen, alles zeigte sich ihr ohne Glanz und Farben, selbst als der Frühling die Natur voller Pracht wiederbelebte. So wie in den, vor Eltern und Freundinnen verheimlichten Gefühlen ihrer Liebe, blieb sie allein mit ihrem Kummer. Zwar kostete es sie Kraft, anderen Menschen Heiterkeit vorzuspielen, doch sie war sicher, dass niemand ihre Verzweiflung verstehen würde. Ihr fehlten Joes feinfühlige, von Poesie getragene Worte so sehr, dass sie sogar über Selbstmord nachdachte.

Um nicht aufzufallen, traf sie wie gewohnt ihre Freundinnen, die sich fast ausschließlich über junge Männer unterhielten, ihre Gefühle für diese und die damit verbundenen Entwicklungen. Bald hatten zwei von ihnen einen festen Freund und genossen ihre erste Liebe. Von so wohl gewählten Worten, wie Joe sich gebrauchte, sprach keine von ihnen. Es schien ihnen zu reichen, dass sie sich mit einer Partnerschaft brüsten konnten, das Küssen erlernten und auf Feiern ganz offen Zärtlichkeiten austauschten.

Die Zeit heilte Levinas Kummer, auch wenn die Narben manchmal noch schmerzten. Da sie von der Liebe gekostet hatte, wollte sie dieses Gefühl zurückerlangen. Sie sah sehr gut aus und war freundlich, was natürlich das Interesse etlicher junger Männer weckte. Mit nun 16 Jahren war es ganz selbstverständlich, dass von ihr erwartet wurde, sich den Werbungen des anderen Geschlechts hinzugeben.

Levina stürzte sich in das Abenteuer, erkannte aber schnell, dass die Erhörten nur küssen, schmusen und vielleicht noch mehr wollten. Keiner von ihnen gab sich die Mühe, ihre Zuneigung mit Phantasie, romantischen Worten oder zärtlich zurückhaltenden Gesten zu gewinnen. Enttäuscht zog sie sich zurück.

Ihre verletzte Seele lenkte sich fortan mit dem Erlangen von Wissen und eifrigem Lernen ab. In der Logik von Zahlen und den sachlichen Erkenntnissen der Wissenschaft fand sie Ruhe. Nie mehr sollten Gefühle ihren Geist umnebeln. So entwickelte sie sich zu einer herausragend guten Schülerin in Mathematik und den Naturwissenschaften.

 

Durch die, von den Glockenblumen hervorgerufenen Erinnerungen, begann Levina langsam die Darstellungen in der romantischen Literatur zu verstehen. Aber ihr Herz weigerte sich, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Themen zuzulassen. Auch fürchtete sie, der Schmerz über den Verlust von Joe würde zurückkehren. Aber bei jedem Blick auf die Blumen drängten sich die Gedanken an ihn auf. Hatte er nicht einst zu ihr gesagt, dass, wenn die Glockenblumen läuten, sich das Tor zum Himmel öffnet. Welch ein Schwachsinn.

Das Klingeln an der Haustür riss Levina aus ihren Betrachtungen. Pflichtbewusst, aber ungehalten, ging sie hinunter und öffnete diese. Dort stand Leon, der im gleichen Jahrgang ihr Gymnasium besuchte. Der junge Mann hatte sich nie angestrengt, die Zuwendung anderer Schüler zu gewinnen und blieb deswegen recht unsichtbar. Auch Levina kannte ihn nur flüchtig. Nun stand er also schüchtern lächelnd vor ihr und fragte, ob sie ihm bei der Vorbereitung der mündlichen Prüfung in Mathematik helfen könnte.

Das war ihr Fachgebiet und die junge Frau freute sich, der ungeliebten, romantischen Literatur durch eine edle Tat entkommen zu können. Also stimmte sie zu und bat Leon herein. Dabei fiel ihr ein, dass ihr Gast auf dem literarischen Sektor bewandert war und gute Leistungen im Unterricht gezeigt hatte. So konnten sie sich vielleicht gegenseitig unterstützen.

Schnell holte sie einen Fruchtsaft und zwei Gläser aus der Küche. Dann gingen beide in Levinas Zimmer. Dort entdeckte Leon sogleich die Glockenblumen auf der Fensterbank. Von der Gastgeberin unbemerkt, umschmeichelte ein Lächeln seine Lippen. Er hatte den Blumentopf vor der Tür abgestellt, als ihn der Mut verlassen hatte, die Mitschülerin, die oft Männern gegenüber abweisend wirkte, um ihren Beistand zu bitten. Doch da er in den Studien festsaß, überwand er seine Angst später.

Zum ersten Mal bemerkte Levina, dass Leon durchaus eine ansehnliche Gestalt war. Hinter den Gläsern seiner Brille strahlten blaue Augen, keine Pubertätsnarben entstellten sein sorgfältig rasiertes Gesicht, wohl geformte Lippen umschmeichelten ein ebenmäßiges, weißes Gebiss und eine Locke seiner hellbraunen Haare fiel vorwitzig in die Stirn. Als sie dicht nebeneinander die Treppe hinaus geschritten waren, umschmeichelte der zarte Duft seiner Haut ihre Sinne. Und plötzlich meinte Levina, das Läuten einer Glockenblume zu hören.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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