Lilo Külp

Der Sänger Samuel

 

Leni wusste noch nicht, dass er Samuel hieß. Er hatte sich auf ihre  Annonce  beworben, in der sie einen musikalischen Unterhalter für ihre Mutter suchte, die fast 100 Jahre alt geworden ist.

Unter den vielen Bewerbern auf Lenis Annonce war dieser Sänger aus Siebenbürgen. Er rief an. Leni hörte am Telefon eine sonore Stimme, die sang: „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum, ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum …“ usw.

„Bin ich engagiert?“, fragte die Stimme dann.

Spontan sagte Leni: „Ja“.

Jeden Dienstagnachmittag erschien nun dieser Sänger. Ein stattlicher Mann, ca. 80 Jahre alt,  mit einem Stimmvolumen, das noch immer Strahlkraft hatte. Sie verhandelten ein Honorar, Leni servierte regelmäßig Kaffee und Kuchen und dann erklangen die alten Lieder aus Mutters Jugendzeit, Lieder aus Kaiser Wilhelms Zeiten und Weisen aus dem siebenbürgener Land. Auch viele Scherzlieder, die für heitere Stimmung sorgten. In der man den Alltag und alle lästigen Probleme vergessen konnte. Und das mit einer Stimme, die einmal Plätze und Säle füllte und ihm, dem Sänger wohl  auch das Leben gerettet hatte… 

Er erwähnte einmal, dass er nach dem 2. Weltkrieg in Rumänien aus politischen Gründen im Gefängnis saß… Durch die Verhandlungen Adenauers dann im Herbst 1955, wie viele andere, aus  der Kriegs- Gefangenschaft befreit wurde.

Seine Erzählungen waren spannend, voller Witz und Ironie, manchmal voll beißendem Spott. Einmal äußerte er sich auffallend negativ über die Juden.

„Aber Samuel ist doch ein jüdischer Name“, warf Leni ein.

Samuel wurde leichenblass, schien einen Moment wie gelähmt, brachte minutenlang kein Wort heraus. Er, der sonst so schlagfertig war, dem der Schalk im Nacken saß … er brachte kein Wort heraus. Verunsichert und voller Misstrauen fragte er dann:

„Wie haben Sie das herausgefunden?“

Leni war erschüttert.

„Sie haben mir doch selbst Ihren Pass gezeigt. Der Name Samuel ist mir aufgefallen“,

sagte sie.

„Ah so…“

 Völlig entspannt, sang er weiter, als wäre nichts  geschehen…

Er hatte nie erwähnt, auf welcher Seite er in der NS Zeit gestanden hatte…  ob er seine Herkunft verleugnen konnte?  Um sein Leben zu retten? 

Leni hätte gerne mehr darüber erfahren, aber nach diesem Vorfall wagte sie nicht daran zu rühren.

In jener Zeit suchte Leni auch eine Haushaltshilfe. Ein Musikstudent meldete sich. Als Leni meinte, es sollte eher eine Frau sein, die auch mal ihre Mutter betreuen könnte, versicherte er, dass er das sehr wohl übernehmen könne, z.B. könne er die Mutter mit klassischen Stücken auf der Posaune unterhalten. Im Übrigen wolle er gleich eine Probe seines Könnens  abgeben, er brauche nur einen großen Besen um den Hof zu kehren. Das tat er so gründlich und fein säuberlich, dass Leni ihre ablehnende Haltung aufgab. Wenn sie nun mal einen Spaziergang nötig hatte  oder einkaufen musste, kam Adrian und Mutter strahlte, wenn er spielte.

So war das auch an einem Dienstag. Adrian hatte schon am Vormittag im Keller die Stücke geprobt, die er vorspielen wollte. Leni hatte wieder Kuchen besorgt und darauf aufmerksam gemacht, dass am späteren Nachmittag ein Sänger käme. Adrian sah darin keine Aufforderung frühzeitig zu gehen,  im Gegenteil, er meinte voller Begeisterung, er könne den Sänger auf der Posaune begleiten und sicher auch von ihm noch etwas lernen.

Samuel war wenig erfreut, als bei seinem Kommen noch ein anderer anwesend war. Adrian, der sich rührend bemühte, ihm begleitend dienlich zu sein, hatte keinen Erfolg. Die Posaune erklang eine Oktave höher, der Sänger fand die Töne nicht, kam völlig aus dem Konzept, ärgerte sich und fauchte Leni wütend an:

„Haben Sie schon meinen Nachfolger engagiert?  

Leni bemühte sich dem aufgeregten Sänger zu erklären, dass es sich hier keineswegs um seinen Nachfolger, lediglich um eine musikalische Haushaltshilfe handle, die die Mutter zusätzlich mit Posaunenspiel unterhalten wolle.

Aber so leicht ließ sich der verschnupfte Sänger nicht beruhigen.

Adrian versuchte seine Enttäuschung über das vermeintliche „Vorbild“ mit einem großen Stück Kuchen zu entschärfen, das er jetzt „in aller Ruhe verzehren wolle“. 

Samuel schaute  ungeduldig  auf die Uhr, trommelte aufgeregt mit seinen Fingern auf der Tischplatte herum. Dann fauchte er den friedlichen Musikstudenten an,

„dass das Feld hier ab halb fünf Uhr ihm gehöre.“

Kein Wunder, dass die stimmliche Präsenz unter dem „herum fauchen“ sehr gelitten hatte und die nachfolgende Gesangsdarbietung an ein mühsames Krächzen erinnerte.  

 An einem der folgenden Dienstage bot auch Samuels Schwiegersohn, der den Schwiegervater chauffierte, seine Gesangskünste an. Er. ein gutaussehender Mann in mittleren Jahren, meinte, er habe eine gute Stimme und ein beträchtliches Repertoire. Es würde ihm große Freude machen…

„Geh nach Hause, Du hast hier nichts zu suchen!“

unterbrach ihn der eifersüchtige Schwiegervater. Leni gegenüber erklärte er später noch einmal:

„Der hat hier nichts zu suchen“.

Der wäre geistig nicht voll auf Draht. Wie nur seine Tochter an den geraten konnte...

Dann kam jener Dienstag, an dem der pünktliche Sänger sich erheblich verspätete. Bei der Fahrt mit dem Schwiegersohn kam es zu Unstimmigkeiten. Der Schwiegersohn brauchte Luft und öffnete das Fenster. Dem Schwiegervater zog es. Er befahl, das Fenster zu schließen. Als es zu keiner Einigung kam, stieg der Schwiegervater aus. Er zog es vor, den weiten Weg trotz strömendem Regen zu Fuß fortzusetzen.

Völlig durchnässt und erschöpft, wie ein Häuflein Elend, kam er dann zur Gesangsstunde. Leni meinte, er solle zunächst mal heiß duschen. Sie überreichte  ihm  zwei Badetücher. Er meinte, ein Bettlaken könnte auch nicht schaden. Seine Kleidung war klatschnass und musste erst mal getrocknet werden. Als er dann in Bettlaken und Badetuch gehüllt, im „Cäsar- Look“ singend und gut gelaunt aus der Dusche kam, war ein vergnüglicher Nachmittag gerettet.  

Zum siebenundneunzigsten Geburtstag der Mutter hatte sich Samuel etwas Besonderes ausgedacht. Er wollte in Siebenbürger Tracht erscheinen.

Leider war ihm der Anzug aus seiner Jugendzeit zu eng geworden, so dass er bei der ersten Anprobe schier aus den Nähten platzte. Mit Hilfe seiner Nachbarin konnte der Anzug etwas seiner Figur angepasst und mit provisorischen Nähten repariert und mit einigen Sicherheitsnadeln zusammengehalten werden. Das fiel auf den ersten Blick nicht auf. Das lange weiße Hemd mit den schwarzen und roten Stickereien, der kleinen schwarzen Schalkrawatte mit roten und blauen Ornamenten, verfehlte seine Wirkung nicht. Sänger und Anzug überstanden den Auftritt völlig unversehrt, der von den Zuhörerinnen begeistert beklatscht wurde.

 

Nach drei Jahren stand der große Abschied bevor: die Mutter war sehr schwach geworden, konnte nicht mehr aufstehen. Samuel wollte unbedingt noch an ihrem Bett singen, wollte nicht wahrhaben, dass sein Gesang jetzt nicht mehr helfen konnte. Und dass Leni die letzten Tage mit der Mutter allein sein wollte.

Trost suchte sie in der Dichtung. In der Erzählung „Die Brücke von San Luis Rey“ schreibt Thornton Wilder:

„Da ist ein Land der Lebenden, und da ist ein Land der Toten.

Die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe,

das einzig Bleibende, der einzige Sinn“.

 

In diese Gedankenwelt platzte Samuels Angebot:

„Gnädige Frau, Sie brauchen jetzt meine Hilfe.“ 

In seinem Heimatland sei es üblich, erklärte er, dass der Mann das Geld der Frau verwaltet. Diesen und andere freiheitsberaubenden Bräuche aus Siebenbürgen, wollte er nun zum Schutze Lenis einführen. Leni aber wollte  die Erinnerungen an eine schöne Zeit mit der Mutter und dem Sänger Samuel nicht verlieren und lehnte sein Angebot ab.

Bald nach dem Tod der Mutter verabschiedete sich auch Adrian, der eine Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule Köln bestanden hatte und nun sein Studium für Posaune fortsetzen wollte. Aber auf jeden Fall werde er ab und zu Grüße senden.

Leni zog sich in die Stille zurück, suchte nach der Brücke, die das Land der Lebenden mit dem Land der Toten verbindet.

Dann fing sie an zu schreiben, schrieb die Geschichten, in denen sie im Land der Lebenden die „Goldenen Früchte des Herbstes“ fand.

 

 

 

Mit dieser Geschichte wollte ich einen Lebensabschnitt beschreiben, der unglaublich schön, harmonisch und bereichernd war. Und das, nachdem ich Jahre zuvor noch glaubte, dass ich auf der Erde keinen Platz mehr habe. Nun konnte ich erleben, wie beglückend tiefe Zuneigung zu einem Menschen sein kann. Da spielt das Alter keine Rolle. Wenn man den Abschied miterlebt, begreift man, was „Leben“ bedeutet. Ich sah, wie der Atem die „beschwerlich gewordene irdische Hülle“ verlässt und sich im Raum verliert, unsichtbar wird.
„Heute machen wir das Fenster nicht auf“, sagte die Mutter am Morgen ihres Todestages.
Lilo Külp, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.06.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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