Thomas Meyer

Das Frühstück

Ich schließe meine Augen. Das geschäftige Treiben um mich beginnt zu verschwinden. Das junge, so unschuldig verliebte Paar neben mir, die sich gerade in romantischer Routine ihr Frühstück teilt und über ihre Urlaubspläne sprechen. Er mag in die Sonne. Sie nicht. Ich spüre, dass es egal ist. Sie werden so oder so glücklich sein. Oder der ältere Herr mir gegenüber, in seinem grau gestreiften Jackett und der ebenso grauen, viel zu weiten Stoffhose, gekleidet wie er es vor 40 Jahren auch schon war - nur sein Körper hatte sich verändert. Er wirkt mit seinem Hut und dem von Leid und Anstrengung geplagten Ausdruck in seinen alten Augen wie ein Relikt aus einer längst vergessenen Zeit. Ich spüre Einsamkeit.  Auch er verblasst langsam. Oder die junge Familie schräg vor mir. Er, Sie, zwei Kinder. All meine Klischees von neureichen Jungfamilien in einem Bild. Schon als ich mich in das kleine italienischen Café am Stadtrand Wiens zum Frühstück setzte, überlegte ich mir wie sie wohl heißen würden. Ich tippe auf Kessler. Oder Schubert. Ja. Schubert. Wolfgang, Katharina, Lotte und Lorenz. Auch sie entschwinden langsam aus meinem Bewusstsein.

Ich schließe die Augen. Atme tief ein. Frische, sommerlich warme Luft dringt in meine Lungen ein. Es ist einer dieser seltenen Momente, wo sich alles in dir selbst verliert. Kein Geräusch. Nur deine Gedanken. Geschäftige Stille. Laute Ruhe. Gerüche von frisch gemähtem Gras aus dem nahe gelegenen Park vermischen sich mit dem meines Espressos vor mir. Ich kenne diesen Geruch. Bilder erscheinen. Ganze Szenen. Ich. Meine Familie. Urlaub in Süditalien. Wir sitzen am Tisch eines Cafés. Direkt am Meer. Weiße Tische. Weiße Stühle. Unrasierte, braungebrannte Kellner. „Gelato!“. Ich rieche den Café meiner Eltern und den frischen, salzigen Duft des Meeres. Keine Sorgen. Keine Ängste. Einfach nur ich. „Gelato!“ und wieder: „Gelato!“ Ich kann die Strandverkäufer ganz nah hören. „Papa, darf ich ein Eis haben… bitte!“. Ich kann mich hören. Und ich sehe meinen Vater wie er mir mit einem Augenzwinkern ein paar Lire in die Hand drückt.

Ich spüre den weichen Sand unter meinen Füßen. Und dann diese Fröhlichkeit. Dieses unfassbare Glück in mir. Wann habe ich verlernt, so glücklich zu sein? Wann habe ich vergessen, wie es ist, unbekümmert zu sein. Nichts und niemanden hinterher zu jagen. Ich nehme meine Schwester an der Hand und laufe zum Eisverkäufer. Mühsam und mit etwas Scham presse ich ein undeutliches und rein aus meiner Erinnerung reproduziertes „una cioccolato e una fragola“ hervor. Der dicke Eismann grinst mich an. Er hat verstanden. 

Viel Schmerz umgibt uns. Doch wo Schmerz ist, darf auch Glück sein. Ich denke man muss sich wieder daran erinnern, wie es ist, glücklich zu sein - wie es ist in sich zu sein.

Wir alle haben Ballast mit uns. Wir alle laden uns viel auf. Doch manchmal tut es gut, die Augen zu schließen, tief durchzuatmen und sich zu erinnern.

Ich möchte gehen. Ich erinnere mich. „Il conto, per favore!“ Der dicke Kellner grinst. Er hat verstanden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.06.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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