Christa Astl

Heimepisoden: Körpernähe

 

 

Frau Doris war eine energische, selbstbestimmte Frau. Seit einigen Jahren lebte sie  im Heim, weil sie erstens schon 90 Jahre alt war und zweitens ihre Wohnung im vierten Stockwerk eines großen Hauses hatte.

Aber sie war noch rüstig und selbständig. Sie räumte ihr Zimmer auf, machte das Bett, putzte sogar ihr Waschbecken. „Ich muss ja was zu tun haben“, so ihr Kommentar. Am Nachmittag ging sie gerne mit ihrem Rollator im großen Heimgarten spazieren, setzte sich auf eine der vielen Bänke, am liebsten in die Sonne. Meine Warnungen, sich nicht zu viel der Sonne auszusetzen, fruchteten nichts. Manchmal stellte sich eine zweite Spaziergängerin zu ihr und ein Gespräch tat beiden gut. Die zwei schienen sich gut zu verstehen

Frau Doris war eine resolute Dame, man merkte, dass sie sich im Leben durchsetzen musste. Auch jetzt wusste sie genau, was sie wollte, was ihr – und den anderen gut tat, sie half aber auch, wenn jemand Hilfe brauchte und war mit Rat und Tat zur Stelle.

Eines Tages, es war im Winter, traf ich sie draußen mit offenem Mantel. „Ist Ihnen denn nicht kalt?“, fragte ich. „Doch, aber ich bringe die Knöpfe nicht zu“, und sie zeigte mir ihre von Arthrose geschwollenen Finger.  Sie fragte nicht, ob ich ihr helfen könnte, ließ es aber zu, dass ich den Mantel zuknöpfte. Dies war das erste Mal, dass ich ihr etwas näher kam.

Als ich sie nach längerer Abwesenheit wieder besuchte, lag sie im Bett. Es ginge ihr sehr schlecht, hieß es. Die Fenster waren geschlossen, der Vorhang ließ nur dämmriges Licht durch. „Machen Sie bitte den Vorhang auf, ich will die Sonne und meine Berge sehen.“ Den Wunsch erfüllte ich ihr gerne, und sofort wurde sie etwas lebhafter. Sie wünschte sich eine bessere Matratze und ein Kissen, das sie besser stützen konnte. Mit Freude erzählte sie von früher, manches hörte ich zum ersten Mal von ihr, denn bisher war sie eher introvertiert, redete kaum von sich.

Da ich sie von nun an jede Woche besuchte, schien sie bereits auf mich zu warten.

Doch die Gespräche wurden kürzer, seltener, die körperliche Berührung stärker. Ich saß bei ihr und hielt ihre Hand, streichelte ihre Finger.

Dann kam der Anruf von ihrer Tochter: „Könnten Sie nicht zu meiner Mutter kommen, ich glaube, sie wird bald sterben.“ Ich eilte hin, wieder ins abgedunkelte Zimmer. Sie hatte kein Verlangen mehr nach Sonne. Ich strich ihr eine von Schweiß verklebte Haarsträhne aus der Stirn. Ich fühlte, es tat ihr gut. So fuhr ich mit Streich- oder Streichelbewegungen über Stirn und Wangen fort. Die Augen geschlossen, genoss sie es sichtlich. Plötzlich öffnete sie kurz die Augen, sah mich voll an und meinte: „Danke, das tut so gut.“ Sie spürte nur noch – die Nähe.

So einfach ist es Menschen in letzten Stunden noch glücklich zu machen. Nie hätte ich es vorher gewagt, diese Dame zu berühren. Man muss bei sehr alten Menschen recht achtsam sein, wie man sich und wie weit nähern darf, ohne abgelehnt zu werden. Die Hand geben ist das erste, vielleicht das wichtigste. Diese Hand wird dann oft fest gehalten, denn gerade in der letzten Zeit will niemand allein sein.

 

 

ChA 15.01.18

 

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