Heinz-Walter Hoetter

Peterchens Traum

Es war noch ganz früh am Morgen. Langsam wurde es draußen hell. Der kleine Peter stand am Fenster seines Kinderzimmers im 1. Stock und schaute hinunter auf den still da liegenden Hof.

Verschlafen rieb er sich die Augen und konnte zuerst nicht glauben, was er da sah. Mitten auf dem Hof stand ein riesiger Baum mit dicken, weit ausladenden Ästen, die fast bis zum Boden hinunter reichten.

„Da stand noch nie ein Baum in unserem Hof. Wo kommt der denn so plötzlich her?“ murmelte Peter mit halblauter Stimme vor sich hin und strich sich ungläubig mit der rechten Hand die langen Haare aus der Stirn, um besser sehen zu können.

Peter verstand die Welt nicht mehr. Da stand dieser riesige Baum einfach so da und winkte ihm mit seinen Blättern beladenen Ästen zu.

„Hallo Peter“, rief der Baum plötzlich, „zieh’ dich an und komm doch runter zu mir! Auf mir kannst du ganz toll herum klettern. Na, wie wär’s?“

Peter dachte ein Weile nach. Er fragte sich, woher der Baum wusste, dass er so gerne auf ihnen herum kletterte? Er wunderte sich zwar darüber, aber er wollte ausgerechnet jetzt nicht darüber nachdenken. Das Klettern auf den Bäumen machte ihm nämlich echt viel Spaß. Und, wenn es möglich war, stieg er jedes Mal bis nach ganz oben in die Krone, von wo aus er weit in die Landschaft sehen konnte. Hier oben wehte ihm der Wind um die Nase, und er verspürte jedes Mal ein herrliches Gefühl dabei ganz oben zu stehen. Seine Eltern hatten ihm zwar das Baumsteigen verboten, weil erst vor ein paar Tagen ein Nachbarsjunge von einem Baum runter gefallen war und mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden musste, was aber dem Peter völlig egal war, denn er war ein guter Kletterer. So etwas würde ihm bestimmt nicht passieren.

Dann schaute er wieder aus dem Fenster. Der Baum winkte immer noch nach ihm.

Peter zögerte nicht lange, zog sich so schnell er konnte an und schlich sich ein paar Minuten später die Treppe runter nach draußen auf den Hof, wo schon der Baum auf ihn wartete.

„Na, da bist du ja endlich. Komm und steige auf meine Äste. Ich bin groß und stark. Und wenn du ganz oben bist, dann kannst du sogar die Sterne sehen“, sagte der Baum zu ihm.

Peter konnte es jetzt auf einmal nicht mehr aushalten. Er ging auf den mächtigen Baum zu und stieg auf den erstbesten Ast, der fast den Boden berührte. Es war wirklich einfach. Schon bald befand er sich im Dickicht aus grünen Blättern, Ästen und dünnen Zweigen und stieg höher und höher. Als er mal für einen kurzen Moment nach unten sah, konnte er den Boden nicht mehr sehen.

Plötzlich hatte Peter das komische Gefühl, dass sich der Baum bewegen würde. Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er sich. Auch wurde es wieder dunkler anstatt heller. Neugierig stieg der Junge vorsichtig den Baum wieder herunter. Unten angekommen musste er erstaunt feststellen, dass er sich in einem Wald befand.

Das machte ihm Angst. Wieso befand er sich plötzlich in einem Wald? Peter bereute es jetzt, auf den Baum geklettert zu sein. Er fragte sich verzweifelt, wie er wohl wieder nach Hause zurückfinden könne. Aber alles, was er sah, waren große, mächtige Bäume, die den Himmel über ihn verdeckten. Nur fahlgraues Licht erreichte den Boden. Peter kam sich vollkommen verloren vor.

Gerade wollte er zu weinen anfangen, als er eine sanft rollende Stimme hörte.

„Hey Peter, komm schnell zu mir rüber! Ich bin es, der weise Uhu. Es könnte nämlich sein, dass schon bald der böse Zauberer Riesenbart hier vorbeikommt und dich mitnimmt. Dann hast du keine Chance mehr. Also, beeile dich und komme so schnell du kannst zu mir!“

Peter sah sich nach allen Seiten um. Schon bald entdeckte er den Uhu, der ihm genau gegenüber auf einem dicken Ast saß. Er lief sofort los.

„Wieso kannst du sprechen? Verstehst du uns Menschen?“ fragte Peter den Uhu, als er vor ihm stand.

„Natürlich kann ich sprechen. Auch mit dir. Das können übrigens alle Tiere hier im Wald. Aber ich muss dir sagen, dass du in großer Gefahr bist. Du darfst jetzt keine Zeit mehr verlieren, wenn du dich aus diesem Wald retten möchtest. Der böse Zauberer Riesenbart lockt immer wieder kleine Kinder hier hin, um sie zu verwandeln, wenn er sie zu fassen bekommt. Also musst du dich jetzt ganz schnell beeilen, um von hier wieder zu verschwinden. Ich kann dir dabei helfen, Peter“, sagte der weise Uhu.

„Und warum will mich der böse Zauberer Riesenbart verzaubern? Ich habe ihm doch nichts getan“, jammerte Peter und wollte schon gleich wieder losweinen.

„Na, jetzt hör' endlich mal auf zu heulen! Das bringt dich auch nicht weiter. Warum bist du auch auf den Baum gestiegen? Du hättest auf deinem Zimmer bleiben sollen. Der Zauberer Riesenbart kennt genau deine Vorlieben. Er weiß, dass du gerne auf Bäume steigst. Deine Eltern habe dir das aber verboten. Trotzdem machst du das immer wieder. Deshalb hat der Zauberer Riesenbart ja auch den Baum zu dir geschickt, der dich dann mit in den Wald genommen hat.“

„Verwandelt der böse Zauberer die gefangenen Kinder in Tiere?“ fragte Peter ängstlich.

„In Tiere nicht“, erwiderte der Uhu, „aber in Bäume, damit sein Zauberwald größer werden kann. Der Zauberer Riesenbart kann die Angst der Kinder spüren und weiß sofort, wo sie sind. Deshalb musst du den Ort hier wieder verlassen und zwar so schnell wie möglich.“

„Und wie komme ich von hier weg?“ fragte Peter den Uhu.

„Wir müssen ganz nach oben bis zur Spitze des Baumes klettern. Der Wald ist so dicht, dass ich hier nicht fliegen kann. Wenn wir ganz oben sind, steigst du auf meinen Rücken und ich bringe dich raus aus diesem Wald. Ich fliege dich dann nach Hause zurück zu deinen Eltern“, sagte der Uhu freundlich und deutete nach oben.

Dann kletterten beide los, immer höher und höher, bis in die Krone des Baumes. Endlich standen sie auf dem letzten Ast, der gefährlich hin und her schwankte.

„Es ist soweit, Peter. Setz dich auf meinen Rücken! Halte dich an meinen Federn fest und schon geht’s los!“ rief der Uhu dem ängstlichen Jungen zu.

Peter tat alles, was der Uhu von ihm wollte. Schon bald flogen sie beide hoch am dämmrigen Himmel dahin, genau in die Richtung einer seltsam geformten Wolke, die wie ein riesiges Fenster aussah. Sein gefiederter Freund flog direkt in die Fensterwolke hinein. Kurz danach hatte plötzlich Peter das komische Gefühl, dass er nach unten fallen würde.

„Tschüss Peter! Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“, hörte er noch den Uhu laut rufen. Dann fiel der Junge mit einem lauten Plumps auf den weichen Boden eines Rasens.

Kurz darauf muss er wohl wieder eingeschlafen sein.


***


Draußen wurde es langsam hell, und Peter wachte gerade auf. Als er noch ganz verschlafen seine Augen öffnete, fand er sich in seinem Bettchen wieder, das direkt neben dem Fenster seines Kinderzimmers stand. Sofort warf er die Bettdecke zurück, ging zum Fenster hinüber und schaute runter in den still da liegenden Hof. Der mächtige Baum mit seinen großen, weit ausladenden Ästen war nicht mehr da.

„Hier hat ja auch noch nie ein Baum gestanden. Ich habe alles nur geträumt“, murmelte Peter so vor sich hin und sah dabei zufällig hinüber zur geschlossenen Toreinfahrt, die links und rechts durch einen Jägerzaun begrenzt wurde.


 

Gleich neben der Einfahrt entdeckte Peter zu seiner großen Überraschung einen kauzigen Vogel, der fast bewegungslos auf einem der dicken Holzpfosten des Jägerzaunes saß und mit seinen großen Augen zu ihm herüber schaute. Es war ein Uhu, und dazu noch ein besonders großer. Mit ein paar kräftigen Flügelschlägen erhob dieser sich plötzlich in die Luft und flog nur wenige Augenblicke später ganz dicht an Peters Fenster vorbei.

„War das der Uhu aus meinem Traum gewesen oder alles nur ein Zufall?“ fragte sich Peter leise und schaute dem Nachtvogel noch lange hinterher, der mit weiten Flügelschwingen gleich hinter dem nächsten Wiesenhügel in einem großen Wald verschwand.

Was glaubt ihr, meine lieben Kinder? Hat Peterchen das alles wirklich nur geträumt?

 

ENDE




©Heinz-Walter Hoetter

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.05.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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