Manfred Sander

Der Weihnachtswunsch

Es war das Jahr 1940. In dem kleinen Örtchen Grünst.dtel im Erzgebirge hatte es seit Tagen

geschneit, und die weiße Pracht türmte sich fast meterhoch auf den umliegenden Feldern. Im

Ortskern hatte man zwischen den wenigen Häusern des Ortes eine notdürftige Schneeräumung

vorgenommen, damit die Einwohner sich mit Holz und Kohle und den notwendigsten

Lebensmitteln versorgen konnten. Es war der 24ste Dezember, und alle bereiteten sich auf die

Begehung des Weihnachtsfestes vor. Am heutigen Heiligen Abend war niemand mehr auf den

Straßen des Ortes anzutreffen, denn alle, ob groß oder klein, warteten in ihren mit Christbäumen

geschmückten Wohnzimmern auf die Ankunft des Christkinds. Besonders die Kinder fieberten mit

vor Aufregung hochroten Köpfen der Bescherung entgegen. Nur in einem Haus wollte nicht so

richtig die Freude auf das Fest einkehren. Vor dem Fenster des Wohnzimmers standen ein Mann

und eine Frau in mittlerem Alter und schauten durch die mit Eisblumen versehene Scheibe. Ihre

Blicke richteten sich auf das nahe Nachbarhaus, aus dessen, wenn auch geschlossenem Fenster,

das Juchzen einer Kinderstimme drang, die der Wind über die Entfernung herübertrug. Die

Nachbarn hatten vor zwei Jahren Familiennachwuchs erhalten und der kleine Anton freute sich

wohl gerade lautstark über die Geschenke des Christkinds. „Was ist das nur für ein trauriges Fest,

wenn man keine Kinder hat,“ sagte die Frau leise zu ihrem Mann, und wischte sich die Tränen aus

den Augen. „Warum hat uns der liebe Gott so bestraft, daß wir keine Kinder bekommen. Ich

würde alles dafür geben, wenn wir ein kleines Mädchen oder kleinen Jungen hätten. Doch all

meine Gebete wurden nicht erhört. Wir müssen uns wohl damit abfinden, daß uns unser

Kinderwunsch nie erfüllt wird,“ „Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben,“ antwortete leise der

Mann, „ein weiteres Gebet kann wohl nicht schaden, zumal wenn es Heiligabend ist, der Tag, an

dem das Christuskind geboren wurde.“ Aus dem Radio erklang gerade das Lied „stille Nacht,

heilige Nacht“, als sie vor einem an der Wand hängenden Marienbild niederknieten und voller

Andacht beteten.

Millionen Kilometer von dem Ort des Gebets entfernt befand sich das Himmelsgewölbe Nummer

36, in dem sich die Engel Klara und Lara befanden. Ihr Aufgabengebiet bestand darin, für den

Nachwuchs auf dem Planeten Erde zu sorgen, und zwar war Klara für das Aussehen eines neuen

Erdenbürgers verantwortlich, während Lara sich um die inneren Werte kümmerte und ihnen die

Seele einhauchte. Sie waren für den Ort Grünst.dtel im Erzgebirge zuständig, doch im Augenblick

waren sie stark belastet, da sie für die Ortschaften Schwarzenberg und Annaberg in Vertretung

auch noch tätig werden mußten. Durch die viele Arbeit mißmutig und schlecht gelaunt grummelte

Klara vor sich hin:“hörst Du da gerade das Gebet aus Grünst.dtel und den damit verbundenen

Kinderwunsch. Als wenn wir nicht schon genug Arbeit hätten. Ich sehe das gar nicht ein, für solch

alte Leute die Finger zu rühren.“ Aber Klara,“ antwortete Lara, „sei doch nicht so ungerecht, die

zwei Erdenbürger haben schon oft ihren Kinderwunsch zu uns getragen, aber wir haben ihn nie

erfüllt. Ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir Ihnen das Glück ins Haus bringen.“ Da Lara schon

Oberengel war und im Rang über Klara stand, gab Klara klein bei. Doch sie nahm sich vor es an

der üblichen Sorgfalt fehlen zu lassen. So formte sie ein kleines Mädchen, dessen Ohren zu groß,

die Nase zu krumm und der Mund zu klein waren. Auf die Stirn schuf sie zu allem Überfluß noch

zwei große Warzen. Als Lara dem Wesen die Seele einhauchte erkannte sie sehr wohl, daß Klara

in ihrer Wut nur Pfuscharbeit geleistet hatte. Sie sagte aber nichts sondern glich diesen Fehler

dadurch aus, daß sie dem Kind die Tugenden wie Aufrichtigkeit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit,

Mitgefühl, Treue und Weisheit in einem weitaus höherem Maße einhauchte, wie es sonst üblich

war. Dann brachten beide Engel das geschaffene Wesen zu der himmlischen Poststelle, die für die

Zusendung zuständig war. Sie gaben aber die Anweisung, daß die Auslieferung beziehungsweise

die Geburt des Kindes am Heiligen Abend des Jahres 1941 erfolgen sollte.

Aus Grünst.dtel gab es in den nächsten zwei Monaten nichts neues zu berichten. Doch im März

1941 herrschte großer Jubel in einem Haus. Nach vielen Jahren der Kinderlosigkeit war die Frau

schwanger geworden. „Ich kann gar nicht sagen wie glücklich ich bin,“ strahlte sie ihren Mann an.

„Wenn es nur schon so weit wäre. Ich kann es kaum abwarten, bis ich mein Kind in den Armen

halte.“ Doch auch die Zeit des Wartens ging vorüber, und bei Einbruch der Dunkelheit am Heiligen

Abend übergab die Hebamme das kleine Mädchen ihrer glücklichen und dankbaren Mutter. „Wir

nennen sie Astrid,“ sagte die Frau zu ihrem Mann. „Wir haben uns mit unserem Kind einen Stern

vom Himmel geholt und astra heißt auf spanisch Stern. Auch lassen sich von dem Namen Astrid

die Bedeutung „die Helferin“ oder „die göttlich Schöne“ ableiten, und für mich ist meine Tochter

das Schönste, was es auf der Welt gibt. Der Mann war mit der Namensgebung einverstanden,

und so wuchs Astrid in den nächsten Jahren heran. Doch wenn auch nach der Geburt und in den

ersten zwei Jahren die Pfuscharbeit des Engels Klara noch nicht sichtbar wurde, traten in der

Folgezeit die Auswirkungen von Klaras Verweigerung einer ordentlichen Arbeit immer mehr zum

Vorschein. Die zwei dunklen Punkte auf Astrids Stirn entwickelten sich immer mehr zu zwei

unansehnlichen Warzen, ihre Ohren glichen schon während ihrer Kindheit denen eines kleinen

afrikanischen Elefanten und ihre Nase strebte dem Himmel derart entgegen, daß Astrid bei Regen

den Kopf senken mußte, um keine Tropfen in die Nase zu kriegen. So war das Älterwerden für

Astrid nicht leicht und sie hatte im Kindergarten, später in der Schule und dann auch als

heranwachsender Teenager mit den Gehässigkeiten der Menschen zu kämpfen. Sie war zwar

geschätzt und geachtet hinsichtlich ihrer Tugenden, doch das reichte nicht immer, denn für die

Menschen ist im allgemeinen das äußere Erscheinungsbild wichtiger als die inneren Werte. Für die

Bewohner des Heimes für Behinderte in Grünst.dtel war Astrid ein Segen, denn hier arbeitete sie

seit zwei Jahren und ersetzte für die Insassen Augen, Hand und Verstand.

Sonntags ging sie regelmäßig zur Heiligen Messe und war auch im karitativen Dienst der Kirche

tätig. Als jetzt 18-jährige sehnte sie sich aber auch danach, eine Familie zu gründen und auch

einmal selbst Kinder zu haben. Doch sie fühlte, daß das alles wohl ein Traum bleiben würde.

Heimlich hatte sie sich in den 19-jährigen Nachbarsjungen Anton verliebt, der sich zu einem

stattlichen Burschen entwickelt hatte und dem die heiratsfähigen Mädel des Ortes zu Fü.en

lagen. Doch Astrid wußte, daß ihre Liebe nie die Erfüllung finden würde und versuchte, soweit es

ging, sich immer von Anton fernzuhalten. Doch der Schmerz wurde immer größer und sie sagte

sich, es sei besser nicht mehr zu leben, als den wachsenden Schmerz weiter zu ertragen. So

beschloß sie ihrem Leben ein Ende zu setzen. In wenigen Tagen würde Heiligabend sein und

damit auch ihr 19ter Geburtstag. An diesem Tag sei sie geboren worden und daher sei der Tag

auch geeignet, wieder aus dem Leben zu treten. Als der Heilige Abend gekommmen war, nahm

Astrid ihr Gebetsbuch und verabschiedete sich von ihren Eltern. Diese gingen davon aus, daß ihre

Tochter wie jedes Jahr an diesem Tag die Abendandacht in der Kirche besuchen wollte. Doch

Astrid lenkte ihre Schritte zu einem nahe gelegenen hohen Felsen, dessen Gipfel sie mit einiger

Mühe erreichte. Sie stellte sich an den äußersten Rand und öffnete das Gebetsbuch. Sie wollte

sich nicht von dieser Erde verabschieden, ohne für ihre Eltern und ihre Schutzbefohlenen gebetet

zu haben. Sie betete laut und ihre Stimme hallte aus der dunklen und kalten Winternacht wie ein

Echo zurück.

Im Himmelsgewölbe 36 waren die Engel Klara und Lara wie jeden Tag an der Erstellung neuer

Erdenbürger, als sie aus dem himmlischen Lautsprecher das Gebet Astrids hörten. „Da kannst Du

sehen, was Du mit Deiner Pfuscharbeit angerichtet hast“, sagte Lara, und blickte Klara

vorwurfsvoll an. „Seh zu, ob Du das Unheil noch verhindern kannst, wir jedenfalls können es nicht

mehr. Du mußt schon unseren Herrgott um Hilfe bitten.“ Klara war ganz weiß geworden und die

Schuldgefühle peinigten sie unsagbar. Ohne ein Wort zu sagen, drückte sie einen roten Knopf, der

eine unmittelbare Audienz beim Herrgott bewirkte. Gott hörte sich Klaras Geständnis an und

sagte, wenngleich er ja alles schon wußte: „Gut, daß Du mich von Deinem Fehlverhalten

unterrichtet hast. Gehe wieder zurück an Deine Arbeit und sieh zu, daß sich so etwas nicht

wiederholt.“ Und schon befand sich Klara wieder in ihrem Himmelsgewölbe 36. Gott hingegen

blickte auf den winzigen Planeten Erde und seinen Augen entsprangen zwei Lichtstrahlen, die mit

unvorstellbarer Geschwindigkeit sich in Richtung Grünst.dtel entfernten.

Astrids Stimme war verklungen. Sie war nun bereit, den letzten Schritt in ihrem Leben zu machen.

Ein Bein befand sich schon über dem Abgrund, als ein gleißender Lichtstrahl ihren Körper traf. Sie

sah auf einmal ihre Eltern, die weinend ihren zerschmetterten Körper betrachteten. Sieh sah den

Blinden, den sie immer über die Straße führte, wie er von einer Pferdekutsche erfaßt und getötet

wurde. Sie sah die vielen hilflosen Menschen im Heim, die nun ohne ihre Hilfe waren und mit ihren

Gebrechen allein gelassen wurden. Da schämte sich Astrid wegen ihres Vorhabens, kletterte den

Felsen wieder hinunter und begab sich in die Kirche, wo sie den letzten Teil der Abendandacht

noch miterleben durfte. Dann ging sie nach Hause, als wenn nichts geschehen wäre. Ihre Mutter

begrü.te sie mit den Worten: „Schön, daß Du kommst, das Essen ist fertig, und dann wollen wir

den Heiligen Abend feiern und uns freuen, daß wir gesund und eine glückliche Familie sind.“

Zur gleichen Zeit saß auch Anton mit seinen Eltern zu Tisch. Es gab wie jedes Jahr Kochwurst

und Kartoffelsalat. Anton war inzwischen 20 Jahre alt und half auf dem Bauernhof seines Vaters

schon kräftig mit. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Vater und Mutter und stellte fest, daß die

Anzeichen des Alterns bei ihnen schon weit fortgeschritten waren. Er wünschte sich den Tag

herbei, wo er Herr auf dem Hof sein würde und nicht mehr den Anweisungen seiner Eltern folgen

mü.te. Er würde dann das schönste Mädchen des Ortes zur Frau nehmen und nur noch das tun,

wonach ihm der Sinn stünde. Während Anton so sinnierte, sah er plötzlich einen hellen Strahl auf

sich zukommen. Er fühlte die Wärme des Strahls im ganzen Körper und er merkte, daß

irgendetwas mit ihm passiert sein mußte. Seine Gedanken von vor wenigen Minuten kamen ihm

merkwürdig vor. Nein, er wollte nicht schon bald Herr auf dem Hof sein. Er wünschte sich

sehnlichst, daß seine Eltern noch lange leben mögen und daß alle in Frieden und Eintracht

beisammen sind. Antons Ansichten hatten sich plötzlich in das totale Gegenteil verkehrt. Nein,

nicht das schönste Mädchen wollte er heiraten, sondern das Mädchen, dessen inneren Werte ihn

beeindrucken. Anton legte sich heute sehr früh ins Bett. Morgen zum 1. Weihnachtstag wollte er

früh in die Heilige Messe gehen und er wollte im Bett auch noch überlegen, was mit ihm passiert

sein könnte, das aus ihm so plötzlich einen anderen Menschen gemacht hatte. Am nächsten Tag

stand Anton schon früh auf. Er zog seinen schönsten Trachtenanzug an, trank einen Schluck

Kaffee, den die Mutter schon gekocht hatte, aß zwei Plätzchen vom Weihnachtsgebäck, nahm

sein Gesang-und Gebetsbuch, das ihn schon ewig nicht begleitet hatte und öffnete dann die

Haustür, um sich zur Kirche zu begeben. Er ging drei Schritte durch die Schneegasse Richtung

Kirche und blieb dann auf einmal wie vom Donner gerührt stehen. Vor dem Nachbarshaus stand

Astrid. Es war ihm, als sei sie von einem Lichterkranz umgeben. Er sah all die Tugenden, die der

Engel Lara ihr in reichem Maße eingehaucht hatte, er konnte die Liebe erkennen, ihre Herzlichkeit

und Wärme und er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. Wie unter Zwang ging er auf sie

zu.

Astrid freute sich am 1.Weihnachtstag auf den Besuch der Heiligen Messe. Sie zog ihren

Wintermantel an, nahm ihr Gesangbuch und öffnete die Haustür. Da sah sie Anton aus der Tür des

Nebenhauses kommen. Astrid blieb stehen, denn sie wollte Anton nicht über den Weg laufen.Ihre

Liebe zu ihm schmerzte sie immer noch, aber sie hatte sich damit abgefunden, daß sie ihr Leben

ohne Familie und Kinder fristen mü.te. Plötzlich stockte ihr der Atem. Anton kam direkt auf sie zu,

ergriff ihre Hand, hakte sich bei ihr ein und zog sie halb mit in Richtung Kirche. „Wir haben doch

denselben Weg,“ sagte er, „dann können wir diesen doch auch gemeinsam gehen.“ Astrid war der

Ohnmacht nahe, als Anton die schwere Kirchtüre öffnete und mit ihr den langen Gang der Kirche

bis zur ersten Sitzreihe ging. Normalerweise saß Astrid auf einem Eckstuhl in der letzten Reihe,

und nun saß sie neben Anton in der ersten Reihe. Sie konnte es nicht glauben und kniff sich

heimlich mit der rechten Hand in den linken Arm. Der Schmerz sagte ihr aber, daß es kein Traum

und keine Phantasie war. Astrid merkte, wie sie zitterte und ihr die Tränen über die Wangen liefen

als Anton ihr zuflüsterte:“Willst Du meine Frau werden?“ Und so war es dann auch. Astrid und

Anton heirateten und bekamen zwei hübsche Buben und zwei entzückende Mädel, denn diesmal

hat der Engel Klara eine besonders gute Arbeit abgeliefert.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.09.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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