Wolfgang Hoor

Die rote Mappe oder das Wörtchen NA

Manchmal sind Träume Schäume, die man schnell abwaschen kann, manchmal überfallen sie einen, weil sie einen gnadenlos überwachen wie Spitzel und dann im richtigen Augenblick zuschlagen. Der Traum, den ich schnell von mir abwaschen konnte, war ein Alptraum. Es war einer, den ich nicht verstand. Es war ein wüster, zusammenhangloser Traum. Aber ich konnte ihn abwaschen.

Irgendein gesichtsloser Mensch ging mit meiner dreijährigen Tochter Maria weg. Maria drehte sich um, schaute mich treuherzig an, schüttelte den Kopf. Dann war ich allein vor einer türlosen, fensterlosen Wand, die ich nicht kannte. Ich wollte Maria nach, ich wollte sehen, wo sie geblieben wäre, aber in der Wand erschien plötzlich ein Gesicht, verzerrt, lachend, das allmählich nur noch aus einem Mund bestand, und der Mund sagte zuerst leise, dann immer dröhnender: „L’hypophyse, c’est le chef d’un orchestre philhormonique.“ (Die Hypophyse ist der Dirigent eines philhormonischen Orchesters.) Ich sprang auf, ich lief und lief, und dann saß ich in einer Vorlesung. Der Professor war ein Klassenkamerad, Peter Monheim, und er zeigte auf Maria, die in Tücher eingewickelt auf seinem Tisch lag. Ich sah, dass es Maria war, natürlich, obwohl ich nichts von ihrem Körper erkennen konnte. „Dieses Kind“, sagte der Professor, „existiert nicht. Die Hormone, die erforderlich sind, um die Spermienproduktion zu ermöglichen, haben gefehlt. Es existiert also nicht. Und ich wiederhole: L’hypophyse ...“ Ich sprang auf, lief auf das Kind zu, wollte es in meine Arme schließen, saß aber dann an dem Kinderbett von Maria. Es war leer. Meine Frau saß gesichtslos auf einem Stuhl neben dem Bett. „Maria“, schrie ich. Meine Frau erfasste meinen Arm. „Pst“, sagte sie, „sie hat sich eben verflüchtigt, die Maria. Wir werden immer kinderlos bleiben.“

Ich erwachte schweißnass, sprang aus dem Bett und lief ins Kinderzimmer. „Maria“, rief ich, „Maria“. Maria wurde wach. Sie lachte mich an. „Papa, Papa!“, sagte sie. Ich war erlöst, war aus der Hölle in den Himmel aufgefahren. Aber über den Traum, von dem ich erlöst worden war, kam ich so leicht nicht mehr weg. Wer war dieser Professor aus meinem Traum? War er wirklich der Peter Monheim aus meiner Klasse? Der Peter Monheim, der mich manchmal nachgeahmt hatte, weil ich ihm zu langsam war? Der Peter Monheim, mit dem ich Schach gespielt hatte? Warum nahm er mir im Traum mein Kind weg.? Wollte er mir sagen, dass ein Kind eigentlich gar nicht zu mir passte? Und während ich über Peter Monheim grübelte, kam mir der andere Peter in den Sinn, Peter Schmidt. Der war mein Freund, vor 40 Jahren in der Schule gewesen. Und der war immer auf meiner Seite gewesen. Ein zuverlässiger Freund! Auf den konnte ich mich verlassen, wenn andere mich hänselten und hinter vorgehaltener Hand sagten, ich sei eigentlich ein kleiner Junge geblieben. Ja, zu diesen anderen hatte auch Peter Monheim gehört!

Und dann kam eine Erinnerung in mir hoch, die mir zeigte, dass der Peter Monheim und mein Freund Peter Schmidt in ihrem Urteil über mich gar nicht so weit auseinander lagen. Nur in der Ehrlichkeit unterschieden sie sich. Ich habe meinem Peter Schmidt einmal, als wir bei einer Schulwanderung nebeneinander hertrabten, von meiner Familie erzählt und dass wir viele Kinder waren und dass meine große Schwester viele Kinder hat und dass ich meine Nichten und Neffen sehr gern sähe und dass ich bestimmt auch einmal Kinder haben würde. Er hatte mich damals aus den Augenwinkeln angeschaut, zweifelnd und ein bisschen listig, und hatte dann nur gesagt: „Na?“ Nur dieses „Na?“ sagte er. Ich hatte über viele Jahre hinweg nicht mehr an die gemeinsame Wanderung gedacht, auch nicht daran, was ich damals darauf gesagt hatte, aber das „Na?“ hatte ein Leben lang in mir sein Unwesen getrieben: wenn ich mit Mädchen sprach, wenn ich mich vergnügte, wenn ich über Witze von Kommilitonen lachte, die unter die Gürtellinie gingen, wenn ich in Träumen bei einem Mädchen im Bett lag, hörte ich dieses NA, das mich ausschloss aus dem Kreis der Männer mit normalen Fähigkeiten. Dieses NA begleitete die ersten Zärtlichkeiten, die ich mit meiner Frau austauschte, das Eheversprechen, die Trauung, es schlich sich in alles, was eine Ehe zu einer Ehe macht, und erst ALS Maria sich ankündigte, verstummte es.

Der Traum, der mich wie ein Spitzel überwachte, um im richtigen Augenblick zuzuschlagen, war kurz und kam immer wieder. Wieder war ich vor einer versperrten Tür. Ich wollte immer noch Maria nach, ich wollte sehen, wo sie geblieben wäre, aber in der Wand erschien plötzlich ihr Gesicht, verzerrt, lachend, das allmählich nur noch aus einem Mund bestand, und der Mund sagte zuerst leise, dann immer dröhnender: „Du bist gar nicht mein Vater und ich alle Welt weiß es.“ Und dabei rückte ihr Gesicht immer näher auf mich zu und am Ende sah ich nur noch zwei leere Höhlen. Ich lief in Marias Zimmer, und sie war nicht da. Und ich rief Pontius und Pilatus an, ob sie etwas von meiner Tochter wüssten, und schließlich sagte ein guter Freund aus alten Zeiten, der auch noch meinen Freund Peter Schmidt kannte: „Deine Claudia hat Schluss gemacht mit dir. Sie ist mit deiner Maria weg.“ Und da wachte ich auf. Ich hörte Maria schreien, sie war im Zimmer von Claudia. Am nächsten Morgen sah ich sie wieder und Claudia auch und alles war wie immer. Aber die Möglichkeit, dass Claudia sie mir wegnehmen könnte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie bewacht mich, dachte ich, sie wartet auf den richtigen Augenblick. Ich werde sie verlieren. Diese Furcht dauerte Monate und Jahre.

Ich verlor sie bis heute nicht. Jedenfalls nicht in der Wirklichkeit. Claudia unternahm nichts gegen mich. Ich konnte ungestört meinen Beruf ausüben und Maria bei mir haben. Maria war ein gelehriges Kind, und wenn man sie gewähren ließ, konnte sie einen über lange Zeit in Ruhe lassen. Während ich Hefte korrigierte, saß sie vor der Bücherwand, die meine Studierecke von unserem Elternschlafzimmer trennte, und „arbeitete“ auf ihre Weise. Sie zog Bücher aus den Regalen, ließ sie auf den Boden plumpsen, errichtete Büchertürme und renovierte ihre Bauwerke, indem sie einige Bücher wieder in die Lücken stellte und andere, die sie noch nicht benutzt hatte, herauszog und ihnen ihren Platz in der Pyramide anwies. Damals war meine Bibliothek noch nicht so groß, dass ich befürchten musste, die Wiederherstellung der Ordnung würde viel Zeit in Anspruch nehmen, und so konnte ich beruhigt arbeiten, während sie plappernd vor ihrem Bauwerk saß. Ich mochte dieses Zusammensein. Manchmal ein Blick, manchmal ein paar freundliche Worte, das war genug, um mich daran zu erinnern, dass ich eine Tochter hatte, die ich liebte. Am Abend, wenn sie im Bett lag, stellte ich die alte Ordnung wieder her.

An einem Tag war sie mit dem untersten Regal beschäftigt, das ihr bisher nicht aufgefallen war. Wahrscheinlich hatte sie entdeckt, dass da die dünneren Hefte und Broschüren standen, dass sie leichter zu bewegen waren und dass man sie lustig „ausschütteln“ konnte. Unter ihnen war eine rote Mappe. Die stach mir in die Augen, die erinnerte mich an etwas. Ich stellte die Ordner wieder ins Regal, fand viele herausgefallene Seiten, die weit in meine Vergangenheit reichten, ordnete sie oberflächlich, packte die schmalen Hefte ins oberste Regal, damit meine Tochter nicht mehr damit spielen könnte. Am nächsten Tag nahm ich den roten Ordner, der jetzt oben im Regal stand. Er war an den Ecken mit Gummizügen verschlossen. Ich öffnete ihn, er enthielt eine Seite eines Buches, das noch in gotischem Schriftsatz abgedruckt war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich je diesen Text oder das Buch, aus dem diese Seite stammte, gelesen haben könnte. Der Verfasser behandelte die Impotenz bei Männern. Er behauptete, dass Impotenz etwas ganz Natürliches sei und dass sie vielen Männern zu Gute gekommen sei, die etwas Besonderes hätten leisten wollen. Im übrigen sei der freiwillige Verzicht, seine Potenz auszuleben, eine besondere Gabe, und ihr habe die Menschheit große Entdeckungen und Erfindungen zu verdanken. Du lieber Himmel, dachte ich, was für ein Text! Aber wie war diese Seite in meinen Ordner gekommen? Sie war offensichtlich aus einem Buch herausgerissen worden. Ich schaute mir das Blatt genauer an. Und dann entdeckte ich ganz klein in der unteren Ecke, mit Bleistift geschrieben: „Lies dir das mal durch!“ Peter Schmidts Schrift! Vielleicht, dachte ich, hat mir Peter das Blatt einfach in den Ordner gesteckt, den ich damals in meiner Schultasche hatte.

Und plötzlich wusste ich, was ich ihm sagen müsste, unbedingt. Ich hatte keinen freiwilligen Verzicht geleistet, ich war weit davon entfernt, die Menschheit durch Impotenz zu beglücken, ich hatte eine Tochter, die ich liebte, und eine Frau, die nicht von mir weglaufen würde. Ich war kein kleiner Junge und kein großer Weltbeglücker, ich war verheiratetet, hatte ein Kind, freute mich an beiden und würde mir das Kind von niemandem wegnehmen lassen. Mein Kind! Ich ging ans Telefon, rief die Auskunft an, fragte nach Peter Schmidt in S.W. und erhielt sogleich die Adresse und die Telefonnummer. Da es nur einen Peter Schmidt in S.W. gab, musste er es sein. Ich wählte die Nummer, rief ihn an, hörte tief befriedigt seine alte, ziemlich tiefe, aber etwas näselnde Stimme. Nein, es gab keine Schwierigkeiten, ins Gespräch zu kommen. Er freute sich, mich zu hören. Keine Vorwürfe, dass ich mich so lange nicht gemeldet hatte. Er erzählte von seiner Arbeit als Grundschullehrer, er erzählte, was aus unseren Mitschülern und Lehrern geworden war. Ich ließ ihn reden, tief bewegt, dass ich ihm jetzt zuhören konnte, ohne wieder an sein NA denken zu müssen. Und dann erfuhr ich, dass er noch immer mit der Frau verheiratet war, die er im Alter von 13 Jahren kennen gelernt hatte und dass er zwei Söhne habe. Ich erzählte ihm dass ich immer noch seinen Spruch von der Hypophyse aufsagen könne und dass ich eine Tochter hätte. Und da sagte er: „Na sowas!“

Und ich legte auf. Ich suchte das Blatt heraus, das von ihm stammte und warf es weg.

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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