Heinz-Walter Hoetter

Fünf fantasievolle Kurzgeschichten

1. Im Land der Fantasie

 

 

 

Über dem Eingang zum Land der Fantasie hängt ein großes Schild mit der Aufschrift

 

Herzlich willkommen!

 

Maike lebt in diesem wunderbaren Land mit vielen anderen Lebewesen zusammen schon seit langer Zeit, obwohl es hier eigentlich keine Zeit und auch keine Uhren gibt.

 

Heute ist sie gut gelaunt, denn Maike erwartet Besuch von ihrer besten Freundin Mira. Soeben hat sie zwei Becher mit Apfelsaft eingegossen, als es draußen an der Tür klingelt.

 

Maike stellt die Becher auf den Tisch und geht rüber zur Tür und öffnet sie.

 

Hallo Maike!“ ruft Mira, „komm' nach draußen! Überall liegt Schnee. Wir können mit dem Schlitten die kleine Anhöhe hinter deinem Haus runter fahren. Das wird bestimmt viel Spaß machen.“

 

Ich habe für uns beide zwei Becher Apfelsaft auf dem Tisch stehen. Die sollten wir vorher trinken. Komm also erst mal rein, Mira.“

 

Die beiden Mädchen gehen ins Haus, setzen sich an den Tisch uns trinken genüsslich ihren Apfelsaft. Als die Becher leer sind, gehen beide nach draußen, holen sich den Schlitten aus dem Keller und marschieren zu der Anhöhe, die gleich hinter dem Haus liegt.

 

Draußen ist es richtig schön. Überall glitzert der Schnee und die vielen Bäume, die überall herumstehen, hängen voller Obst, obwohl es geschneit hat.

 

So ist das eben im Land der Fantasie. Es ist Winter und gleichzeitig wachsen auf den Bäumen und Sträuchern alle möglichen Früchte. Wer Hunger hat, der geht einfach hin und pflückt das, was ihm gut schmeckt.

 

Maike und Mira setzen sich auf den Schlitten und rasen den Hügel runter. Unten angekommen, gehen die beiden gleich wieder nach oben, wo sich auf einmal immer mehr Wesen aus dem Land der Fantasie treffen. Alle wollen den Hügel runter fahren.

 

Da ist z. B. die Elfe Nameira mit den riesengroßen Ohren, die Gnom Bari mit dem roten Spitzhut auf dem Kopf, das Einhorn Kandy mit dem langen Horn auf der Stirn oder Maralaya, die Traumgestalt, die einen weißen Körper hat, der fast wie ein Kleid aus Seide aussieht.

 

Oben auf der Anhöhe angekommen begrüßen sich alle und klatschen vor lauter Freude in die Hände.

 

Machen wir einen Wettkampf?“ ruft plötzlich das Einhorn Kandy und fährt fort: „Wir rodeln um die Wette. Seid ihr alle einverstanden damit?“

 

Alle rufen ganz laut JA!

 

Dann geht der Wettkampf los.

 

Es geht darum, wer am schnellsten den Hügel runter fährt und wieder oben ankommt.

 

Als der Wettkampf vorbei ist, steht die Gewinnerin fest, nämlich Maike. Auf Platz zwei landet die Elfe Nameira und auf Platz drei die Traumgestalt Maralaya, die sich über den dritten Platz dermaßen freut, dass sie wie wild Purzelbäume schlägt.

 

Von einer Sekunde auf die andere verschlechtert sich das Wetter, was im Land der Fantasie sehr oft vorkommt. Aber es kann auch ganz anders kommen, dann scheint plötzlich die liebe Sonne und lässt den Schnee wieder auftauen.

 

Die Schneewolken am Himmel verschwinden und machen einem wunderbar blauen Himmel platz, an dem hoch droben die liebe Sonne scheint. Im nahe gelegenen See schwimmen alle möglichen Traumfische herum, die in allen nur denkbaren Farben leuchten.

 

Jetzt gehen alle runter an den See, ziehen ihren warmen Sachen aus und springen übermütig ins Wasser, das so warm ist, dass darin keiner frieren muss. Auch das ist im Land der Fantasie möglich.

 

Als es draußen langsam dunkel wird, fragt Maike die anderen, ob sie alle die Nacht in ihrem Haus verbringen möchten. Wer will, kann bei ihr schlafen. Das Haus ist groß genug.

 

Es ist sehr nett von dir, liebe Maike, dass du uns in deinem Haus schlafen lässt“, sagt Mira. Es ist so gemütlich in deiner Wohnung. Ich komme gerne zu dir. Was ist mit euch?“, fragt sie die anderen.

 

Alle wollen natürlich auch zu Maike, denn die serviert ihren Gästen immer ein schönes Abendessen, was alle wissen.

 

Alle lachen und machen Späße bis tief in die Nacht hinein. Dann geht jeder nach und nach in seine Schlafecke oder legt sich gemütlich ins Bett. Bald wird es ruhig in Maikes Haus.

 

Am nächsten Morgen hat sich draußen das Land der Fantasie wieder völlig verändert. Man kann den Duft der bunten Traumblumen riechen, die überall auf weiten, grünen Wiesen wachsen. Fantasievögel mit langen, bunten Federn fliegen in der morgendlichen Sonne in der Luft lebensfroh rauf und runter und zwitschern dabei lustige Melodien. Auch die Bäume singen gemeinsam leise ein Lied und wiegen dabei im sanften Wind ganz langsam hin und her. Überall sieht man Rehe mit großen Kulleraugen, die einen weißen, durchsichtigen Körper haben.

 

Als Maike die Tür ihres Hauses öffnet, traut sie ihren Augen nicht. Überall hat das Land der Fantasie für seine Bewohner schöne Traumhäuser gebaut. Als alle endlich wach geworden sind und nach draußen gehen, blicken sie mit weit geöffnetem Mund staunend in der Gegend herum.

 

Hurra!“ rufen sie auf einmal gemeinsam. „Jetzt hat von uns jeder ein eigenes Haus. Hoch lebe das Land der Fantasie!“

 

Das muss gefeiert werden!“ ruft Maike und lädt alle zu einer großen Party auf dem Dorfplatz ein. Alle helfen mit und besorgen Gläser mit Trinkhalmen oder Teller und Tassen mit Messer, Gabeln und Löffeln. Die fleißigen Bienen bringen den süßen Honig und Maike holt einen übergroße Torte aus ihrem Haus, von der jeder ein Stück abbekommt. Auch die Blumen freuen sich darüber, dass sie mitfeiern dürfen und duften jetzt noch betörender als vorher.

 

Auch die Traumtiere des Waldes finden sich ein und jedes von ihnen bringt irgendetwas mit.

 

Woher kommen all die vielen Sachen?“ fragt Mira ihre beste Freundin Maike.

 

Das Land der Fantasie sorgt gut für uns. Die Sachen stammen von den Träumen der Menschen, die in der Nacht von den guten Geistern der Fantasie besucht werden. Dann nehmen sie hier und da mal ein paar Dinge mit, denn die Menschen merken nichts davon, wenn man ihnen von ihren Träumen etwas nimmt. Sie träumen immer wieder von schöne Dingen, die sie von Geistern der Fantasie geschenkt bekommen, sozusagen als Ausgleich dafür, dass sie dafür aus ihren Träumen Sachen für uns mitnehmen. Solange nämlich die Menschen träumen, solange wird auch das Land der Fantasie existieren“, antwortet Maike.

 

Ach“, sagte Mira, „ich bin ja so glücklich hier im Land der Fantasie leben zu dürfen. Wenn die Menschen glückliche Träume haben, dann können auch wir zufrieden und glücklich leben.“

 

Und am Ende sind wir das alle, die hier im Land der Fantasie leben“, sagt die Elfe Nameira, die den beiden aufmerksam zugehört hat.

 

So ist eben das Leben im Land der Fantasie, das von den schönen Träumen der Menschen lebt. Umgekehrt bekommen die Menschen die schönen Träumen von den Geistern der Fantasie geschenkt, damit auch sie innerlich glücklich und zufrieden sein können, denn ohne Träume würden die Menschen sterben.

 

Das weiß doch jeder – oder?

 

ENDE

 

(c)Heinz-Walter Hoetter


 


 

***


 


 


 

2. Elisabeth


 

"Vielleicht ist das, was wir Leben nennen, ein Traum und das, was wir Traum nennen, das Leben."

Platon


 

***


 

Früher hatte ich diese Träume nicht. Ein Ereignis kündigte sich an. Ob es am drückend schwülem Wetter des Hochsommers lag, dass ich oft so unruhig schlief?

Nun, ich hatte eine nette Frau, eine kleine Familie, ein Haus, kurzum ein Heim mit allem, was man sich nur wünschen konnte. Mein Konto bei der Bank war gut gefüllt und würde mich in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren bestimmt nicht arm werden lassen. Eine reiche Erbschaft stand zudem in Aussicht. Ich war eigentlich ein zufriedener Mensch. Die soziale Absicherung stand wie ein Fels. Ich würde alles, wirklich alles dafür geben, damit es auch so blieb, das schwor ich mir jeden Tag.

Warum hatte ich also diese seltsam anmutenden Träume, in denen ich immer wieder auf Zeitreisen ging?

***

Elisabeth regte sich im Bett, öffnete die Augen ein wenig und murmelte: „Wo bist du gewesen?“

Das weißt du doch“, antwortete ich ihr und fuhr fort: „In der Arbeit, mein Schatz.“

Als ich diesen Abend heimgekommen war, hatte meine Frau schon geschlafen. Sie drehte sich auf die andere Seite, wobei ihr die Bettdecke wegrutschte. Elisabeth hatte es nicht bemerkt. Ich blickte zu ihr runter. Ich liebte es, die sanften Rundungen ihres nackten Körpers zu betrachten, das lange schwarze Haar, die schlanken Glieder, ihr hervorquellendes Geschlecht, das meine sexuelle Fantasie anregte.

Elisabeth rollte sich auf den Rücken, als ich zu ihr ins Bett stieg. Stille erfüllte das alte Haus, das wir uns vor ein paar Jahren günstig gekauft hatten. Draußen war der Mond eine leuchtende Scheibe und hing am hellen Nachthimmel über der weiten Landschaft wie eine große Laterne.

Da lag ich neben ihr im Ehebett, und mir fiel nichts anderes ein, als sie zu betrachten. Ich streckte langsam meine Hand nach ihr aus, und als ich ihre einladenden Schenkel berühren wollte, wusste ich im selben Augenblick, dass sie mich nicht wollte. Noch nicht…

Es ist spät“, sagte sie plötzlich.

Es ist erst kurz nach Mitternacht, Schatz.“

Also, ich bin wie gerädert. Bist du überhaupt nicht müde?“

Doch, eigentlich schon. Schließlich bin ich seit heute sechs Uhr in der Früh schon unterwegs“, antwortete ich ihr.

Dann verstehe ich nicht, warum du nicht schläfst, Ronald.“

Elisabeth griff nach der verrutschten Bettdecke und zog sie bis zum Kopf hoch, bis nur noch die Haare zu sehen waren. Dann schlief sie wieder ein.

Ich knipste das Kommodenlicht aus und schloss meine Augen.

Der Traum kam wieder. Vor mir lagen plötzlich die unendlichen Weiten des Universums.

***

Ja, ich beginne langsam zu verstehen. Eine unsichtbare Hand greift nach mir. Sie packt mich und zieht mich weg. Ich zittere am ganzen Leib und lese in diesem Brief, den ich vor ein paar Tagen im Briefkasten ohne Absenderangabe gefunden habe.

Ich blättere zur ersten Seite und beginne zu lesen.

Fürchte Dich nicht! Du musst keine Angst haben! Niemand wird Dir was tun, aber es ist noch vieles zu erklären. Ich meine damit, dass Du noch einiges verstehen und von mir lernen musst, bevor ich wieder auftauche, damit du bald wieder durch die Zeit reisen kannst. Ich sehne mich nach dir.

Hast du schon erraten, dass Du eigentlich das letzte Mal in der Zukunft warst? Hast Du Deiner Frau gesagt, dass Du den ganzen Tag gearbeitet hast? – Ja? Gut so! Halte Deine Gefühle unter Kontrolle! Konzentriere dich auf mich! Die Kammer, die Du vorhin in der alten Scheune am einsamen Waldrand verlassen hast, ist ein Wunder des Universums. Sie wurde irgendwann einmal von einer längst untergegangenen, hochtechnisierten Raum fahrenden Rasse erbaut und dann aus irgendwelchen unbekannten Gründen zurückgelassen. Sie vagabundiert seitdem ziellos durch Raum und Zeit, taucht auf, wo sie will und wer sie betritt, der wird ihr Herr und Meister bis zu seinem Tod sein, wenn er dann noch sterben kann. Du bist übrigens soeben aus der Welt des Jahres 2506 zurückgekommen, meine Schatz.“

***

Da bin ich Liebling. Draußen tobt ein furchtbares Gewitter und es regnet in Strömen.“

Elisabeth streckte die Hand aus und berührte mich. Sie fühlte sich kalt an.

Was ist passiert? Du bist ja ganz nass.“

Ich wollte die Taschenlampe holen“, antwortete ich. „Wir haben keinen Strom. Der Sturm muss irgendwo die Leitung beschädigt haben.“

Bist du sicher?“

Ein greller Blitz flammte auf und beleuchtete ihr blasses Gesicht.

Warum bist du ins Freie gegangen?“

Bin ich gar nicht. Ich kam nur bis zur Tür und wurde draußen auf der Treppe vom Regen überrascht.“

Du lügst schon wieder. Ich hasse es, wenn man mich anlügt, Ronald. Das weißt du doch.“

Elisabeths Stimme bekam jetzt einen schrillen Unterton.

Bei Gewittern geht man nicht nach draußen! Das tut kein normaler Mensch.“

Wieder ein ohrenbetäubender Donner, der alles erbeben ließ. Es klang nach Weltuntergang. Ein Feuerwerk von verästelten Blitzen fuhr vom Wolken verhangenen Nachthimmel. Der Regen peitschte wie eine wild gewordene Furie gegen die getönte Glasscheibe der Haustüre, die ich erst vor wenigen Minuten geschlossen hatte.

Der Lärm, den der Sturm verursachte, jagte mir einen Schauder über den Rücken. Die flackernden Blitze ließen Schatten von Ungeheuern auf den Wohnzimmerwänden wachsen. Sie sahen aus wie grauenvolle, riesenhafte Köpfe, die sich aus dem Dunkeln der Nacht emporhoben.

Ach Ronald!“ stöhnte Elisabeth. „Das geht nun schon seit Wochen so. Ich spüre ganz deutlich, dass du etwas vor mir verbirgst.“

Nicht, Elisabeth! Hör doch endlich auf damit! Es ist nichts, rein gar nichts!“

Du bist hinausgegangen! Du bist hinausgegangen! Eines Tages wirst du nicht mehr wiederkommen!“ wiederholte sie in einem fort, drehte sich plötzlich wie von Sinnen herum und verschwand schluchzend im Schlafzimmer.

Arme Elisabeth. Sie tut mir wirklich leid.

Aber ich hatte mich schon längst entschieden, schon bald ein völlig anderes Leben zu beginnen.

***

Mein innigster Geliebter! Du möchtest wissen, was alles so in den Jahren nach deinem Verschwinden geschehen ist? Ich sage es Dir!

Dein Vater starb mit 84 Jahren, deine Mutter hat ihn um drei Jahre überlebt. Elisabeth, deine verlassene Frau starb im Alter von 86 Jahren geistig verwirrt in einem Altersheim. Daran warst du Schuld! Oder vielleicht sogar ich? Ich trage wohl die größere Schuld an der ganzen Sache. Na ja, das ist jetzt auch wohl irgendwie jetzt egal. Du hättest, ehrlich gesagt, nicht mehr zu ihr gehen dürfen. Ich habe Dir mehrmals davon abgeraten, jedoch wolltest du Elisabeth noch einmal ganz für Dich haben. Sie hat deine Gegenwart nicht verkraften können. Wie ein Geist hat sie Dich angesehen und ist am Ende dabei verrückt geworden. Sie konnte es nicht glauben, dass du plötzlich wieder da warst.“

***

Die unglaubliche Zeitmaschine erlaubte mir nicht nur in die Zukunft oder in die Vergangenheit zu reisen, nein, sie hat mir darüber hinaus die Segnungen und Laster der Unsterblichkeit geschenkt, was ich am Anfang so nicht bemerkt hatte. Nunmehr bin ich schon seit mehr als fünfhundert Jahren unterwegs in den unendlichen Weiten des Alls. Aber es gibt kein Zurück mehr für mich, seit ich zum ersten Mal 1968 auf dieses Ding in der alten, halb verfallenen Waldscheune durch Zufall gestoßen bin. Ich war gerade beim Pilze sammeln als die Zeitmaschine plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und ihre Pforte für mich öffnete, hinter der sich eine hell erleuchtete Kammer befand. Sie schien auf mich zu warten, denn ich bin vor lauter Angst davon gelaufen bin. Erst später schlich ich mich wieder zurück um nachzusehen, ob sie noch da war. Ich empfand plötzlich den unwiderstehlichen Drang, ihr Inneres zu erforschen. Gleich nach dem Betreten der kleinen hell ausgeleuchteten Kammer wurde ich in eine Art schmiegsame Liege gepresst, der Raum wurde dunkel und hermetisch verschlossen. Seltsamerweise hatte ich überhaupt keine Angst. Dann wachte ich erst wieder auf, als die Zeitmaschine in der Welt des Jahres 2506 in einer abgelegenen Wüstenhöhle materialisierte. Irgendetwas war mit mir jedoch geschehen. Ich konnte dieses seltsame Ding auf einmal mit meinen Gedanken steuern. Auch konnten wir auf geheimnisvolle Weise ohne Worte miteinander reden. Es war schon ein sehr seltsames Gefühl, per Gedankenkraft mit einer Maschine zu reden, wenn sie denn überhaupt eine war.

Die Wüste war eine heiße Hölle und so beschloss ich, gleich wieder in das Jahr 1968 zurückzukehren. Punktgenau und nur ein paar Stunden später erschien ich wieder in der alten Waldscheune und ließ die Zeitmaschine verschwinden, denn ich konnte sie mit meinen Gedanken zurückholen, wann immer ich es wollte.

***

Elisabeth, was du da mir da erzählt hast, das ist der nackte Wahnsinn!“

Nein Marie Ann, ist es nicht. Glaub’ mir. Ronald hat ein Geheimnis. Er benimmt sich so seltsam in der letzten Zeit. Ich bin ihm einmal heimlich gefolgt, bis zu dieser einsamen Scheune am Waldrand. Er ist dort hineingegangen und kam nicht wieder heraus. Als ich hineinschaute, war nichts von ihm zu sehen. Die Scheune war völlig leer. Ronald muss sich in Luft aufgelöst haben. Wo war er nur hin? Irgendwie wurde auf einmal der Ort für mich unheimlich. Dann bin ich so schnell ich konnte wieder nach Hause gelaufen. Ronald kam erst gegen Mitternacht zurück und behauptete, in der Arbeit gewesen zu sein. Er hat mich bestimmt angelogen. Was geht hier bloß vor, Marie Ann?“

Wenn ich das wüsste, Elisabeth! Die ganze Sache erscheint auch mir jetzt äußerst seltsam. An deiner Stelle ginge ich so schnell wie möglich zur Polizei. Das sage ich als beste Freundin zu dir. Vielleicht tut dein Mann etwas illegales, das er vor dir verheimlichen möchte.“

***

Ich denke nach. Ich lese die letzten Zeilen des Briefes und leg’ ihn weg. Ich denke an Elisabeth und daran, dass ich mit ihr viele Jahre meines Lebens verbracht habe. Sie ist nun schon weit über 45 Jahre tot, aber vor wenigen Minuten habe ich noch neben ihr im Bett gelegen. Ich bin zur ihr in die Vergangenheit gereist und habe sie einfach besucht.

Jetzt stehe ich wieder einmal hier draußen vor unserem verfallenen Haus mit dem total verwilderten Garten. Die Scheune ist vom Wald überwuchert worden und extrem einsturzgefährdet. Ich habe deshalb die Zeitmaschine in den nah gelegenen Bergen verstecken müssen.

Die Gedanken schmerzen. Aber wenn auch meine Gedanken noch so bitter sind, weiß ich dennoch, dass ich mich damals richtig entschieden habe. Die Zeitmaschine ist nämlich in Wahrheit ein lebendiges Wesen. Sie lebt in Symbiose mit mir. Ab und zu schreibt sie mir sogar Briefe und tut alles, um mich zufrieden zu stellen, auch sexuell. Sie ist einfach eine fantastische Liebhaberin, genau wie Elisabeth es war.

***

Mein Liebster, du musst sie vergessen! Deine alte Elisabeth gibt es nicht mehr. Vergiss am besten alles, was einst mit deinem alten Leben zu tun hatte. Stell dir vor, dass es einfach nur ein schrecklicher Traum gewesen war, der dich wie ein böses Gespenst in unruhigen Nächsten besucht hat“, sagte Elisabeth mit ihrer sanften Stimme zu mir. Meine Finger umschlossen die ihren. Was in mir vorging, ließ sich nicht in Worte fassen. Es war einfach unfassbar.

Wir schlenderten zum Fluss hinunter. Die Landschaft schlief noch, und der stille Morgen verhieß einen heißen Tag. Wir wussten nicht genau, wohin wir wollten und genossen es einfach, beisammen zu sein…, ich und mein wandelbares Wesen Zeitmaschine, die in der menschlichen Gestalt von Elisabeth neben mir herging und mich plötzlich küsste.

 

Ende

 


(c)Heinz-Walter Hoetter


 


 

***


 


 

3. M A R I A


 

 

Das Fenster stand offen und von draußen kam der Geruch einer frisch gemähten Wiese herein.

Maria lag auf ihrem breiten Bett und schloss die Augen. Draußen braute sich ein Unwetter zusammen. Ganz plötzlich fing es an zu regnen. Dann setzte ein Donnergrollen ein. Blitze zuckten vom Himmel. Der Regen trommelte wie wild oben aufs Dach, und die junge Frau spürte auf einmal die warmen Hände ihre Freundes Marlon, der zu ihr ins Bett gekommen war.

Maria hatte schon lange sein Begehren gespürt. Er berührte sie jetzt am ganzen Körper und für beide gab es nun nichts mehr zu verbergen.

Maria rollte sich auf den Rücken, zog Marlon zu sich heran und nahm ihn ganz fest in die Arme. Sie entkleideten sich schließlich und liebten sich wortlos in der aufkommenden Dunkelheit der Nacht, in der ein Gewitter tobte.

Später fiel Marlon in einen tiefen Schlaf. Er hatte den rechten Arm um Marias Taille geschlungen und sich ganz dicht an seine wunderschöne Freundin geschmiegt. Sie dagegen spürte seinen warmen Körper und wie sein Herz ruhig und gleichmäßig pochte.

Die junge Frau lauschte auf das Geräusch des herab prasselnden Regens, der unaufhörlich auf das Dach fiel.

Maria lag noch eine Weile so da, bis sie selbst plötzlich einschlief und zu träumen begann.

Sie träumte, dass sie weit über der Erde schwebte. Trotzdem konnte sie alles klar und deutlich erkennen. Ihr Haus schien aus Glas zu sein. Alles darin hatte klare Strukturen. Und während sie so zusah, dehnten sich auf einmal die Strukturen unter ihr in die Zukunft aus. Sie sah Kinder im Haus spielen, die ihre waren. Sie ahnte die viele Arbeit, die auf sie zukommen würde, aber sie spürte auch die Liebe, die von Marlon und ihren zukünftigen Kindern ausstrahlte. Ein unumkehrbarer Wandel kündige sich an. Sie hatte sich endgültig für ein neues Leben entschieden. Der Traum endete so abrupt, wie er begonnen hatte.

Maria wachte für einen kurzen Moment auf. Kühle Luft strich über ihre geröteten Wangen. Sie zog die wärmende Decke höher. Sie spürte Marlons regelmäßigen Atem in ihrem Gesicht. Er murmelte etwas in sich hinein, was sie aber nicht verstand. Scheinbar träumte auch er.

Egal wie warm der Augenblick auch für beide war oder wie zuverlässig sein Herz schlug, sie konnte nicht verstehen, dass eines Tages Marlons Herz irgendwann stillstehen bleiben würde, denn Menschen waren nicht von Dauer und keines dieser sterblichen Geschöpfe, die sich Menschen nannten, lebte ewig.

Das war bei ihr ganz anders. Sie war ein unsterbliches Wesen, das aus den tiefen des Alls auf die Erde gekommen war und sich in eine schöne junge Frau verwandelt hatte. Den Namen Maria fand sie rein zufällig in einem Buch, das sich Bibel nannte, welches sie kurz nach ihrer Ankunft auf der Erde in einem verlassenen Haus entdeckte. Bald darauf mischte sie sich unauffällig unter die Menschen und begann sich an sie zu gewöhnen.

Sie drehte sich jetzt nach Marlon um und schaute ihm ins Gesicht. Sie fühlte sich wohl in der Nähe dieses Erdenmannes, der groß und kräftig war wie ein gut trainierter Athlet. Sie kannten sich schon länger. Sie spürte schon bald, wie er sie über alles liebte. Das war es, wonach sie als unsterbliches Wesen immer wieder suchte. Deshalb war sie bei ihm geblieben und wollte alles mit ihm zusammen teilen und erleben. Nichts würde sie auslassen wollen, auch leidvolle Erfahrungen nicht.

Doch gleichzeitig begriff sie auch, dass jeder Augenblick mit Marlon die einzige Unsterblichkeit war, die sie mit ihm teilen würde, und sie war froh, diesen Augenblick zu haben, denn mehr brauchte sie nicht.

Nach einer Weile schlief Maria wieder ein, und sie träumte von den unzähligen Welten, auf denen sie schon in ihrem unsterblichen Leben war, dort draußen in der Unendlichkeit von Raum und Zeit.


 

ENDE

(c)Heinz-Walter Hoetter


 


 


 


 


 

4. Der alte Indianerhäuptling


 


 

Die Sonne schien heiß vom Himmel herab. Trotzdem verlor das Land langsam die grüne Farbe. Bäume und Sträucher legten nach und nach ihre Blätter ab und standen bald kahl im Wind. Der Herbst verstrich allmählich in den Winter über. Der Frost kündigte sich an.

Mr. Tom White, der Anthropologe indianischer Abstammung, wühlte mit einem Spaten in der lockeren Erde herum und beobachtete dabei hin und wieder die nähere Umgebung. Alles war ruhig. Hier draußen schien er weit und breit wirklich der einzige Mensch zu sein. Kein Wunder, schoss es ihm durch den Kopf. Die Fremden hatten wirklich ganze Arbeit geleistet. Die einstmals hier ansässigen Indianerstämme waren alle auf geheimnisvolle Weise verschwunden, doch niemand wusste wohin.

Mr. White wühlte weiter. Obwohl er schon fast fünfundsechzig Jahre auf dem Buckel hatte, verfügte er über eine gute körperliche Kondition. Grabungsarbeiten dieser Art machten ihm für gewöhnlich nichts aus. Das Blut seiner Vorfahren, die Comanchen, die einst vor langer Zeit hier gelebt hatten, brach sich wohl immer wieder Bahn in freier Natur.

Er dachte darüber nach, dass er noch immer auf der Suche nach einer schwachen Stelle in Jackson Hill war, einer Stadt, die seine nicht war. Doch eine Flucht von hier schien unmöglich und bald würde man ihn, zusammen mit den anderen, von hier wegschicken. Danach könnte es zu spät sein und seine Probleme würden niemanden mehr interessieren.

Der Spaten traf plötzlich beim nächsten Stoß auf einen harten Gegenstand. Der alte Anthropologe hielt inne, legte das Grabungswerkzeug beiseite, kniete nieder und grub mit bloßen Händen weiter. Der trockene Boden war locker, fast wie Sand. Dann sah er diesen Stein, der noch zur Hälfte in der Erde steckte. Mr. White zog ihn vorsichtig heraus und betrachtete ihn neugierig.

Es handelte sich um einen recht häufig vorkommenden Feuerstein in dieser Gegend, der etwa eine Länge von zehn Zentimetern hatte und offenbar von Menschenhand grob gemeißelt und zugespitzt worden war. Vielleicht hatte er zu einem Speer, zu einer kleinen Steinaxt oder eventuell sogar zu einem Steinmesser gehört. Im Augenblick konnte Mr. White auch nichts genaueres darüber sagen, ob der Stein von den Apachen oder den Comanchen stammte; ganz sicher war er aber von einer der unzähligen Indianer-Gruppen, die in Urzeiten den teilweise wüstenähnlichen Prärielandstrich hier bevölkerten und alle längst zu Staub zerfallen waren.

Der Anthropologe fröstelte auf einmal. Und das lag bestimmt nicht nur am Wind allein.

Beim Betrachten des Artefaktes dachte White daran, wie umwerfend für ihn die ersten Stunden in der Anthropologie gewesen waren. Er erinnerte sich an die nächtelangen Diskussionen, die manchmal heftig geführten Streitgespräche und all die vielen Bücher, die ihm eine neue, geheimnisvolle Welt erschlossen hatten. Aber das war schon lange her und Indianer, wenngleich stark an die amerikanische Zivilisation angepasst, gab es hier damals noch in großer Zahl, als er noch ein junger Bursche war.

Mr. White dachte auch an seine jugendliche Zuversicht, die absolute Gewissheit, mit seinem zukünftigen Forscherberuf die Schlüssel zu jenen Türen zu besitzen, die sich anderen Menschen nie öffnen würden. Und doch stellte er sich manchmal die Frage: Welchen Nutzen hatte er für sich und die Zukunft daraus gezogen? Wann hatte sich die Gewissheit in Ungewissheit verwandelt? Ja sogar in Furcht? Irgendwann im Verlauf seines Lebens war jedenfalls der jugendliche Schwung bei seiner Arbeit verflogen. Vielleicht lag es daran, dass seine Erkenntnisse mehr Fragen als Antworten hergaben? Er stellte sich auch die zweifelnde Frage, ob er selbst irgendwann, irgendwo auf der lange Strecke seines zurückliegenden Arbeitslebens versagt hatte.

Der alte Forscher richtete sich behäbig auf und stand noch lange Zeit mit dem steinernen Fundstück in der Hand so da, ehe er langsam wieder in die Stadt zurückging, die ihm während seiner zurückliegenden Untersuchungen immer unheimlicher wurde. Das, was er hier tat, war nur eine Tarnung, um die Fremden von seiner wahren Mission abzulenken.


 

***

Am Abend, als es draußen noch kälter wurde und die Sonne schon längst verblasst war, ging Mr. White wie immer zum Essen ins Restaurant, das gleich zwei Häuser weiter neben seinem Hotel auf der gleichen Straßenseite lag. Zwei Stunden verbrachte er dort, aß gut und ging danach noch etwas spazieren, bevor er ins Hotel zurück marschierte. Auf dem Weg dorthin dachte er über diese Stadt nach, die sich Jackson Hill nannte. Diese kleine Stadt verbarg ein Geheimnis und stand mit irgend etwas in Verbindung, mit irgendeiner Macht im All. Er wusste es, doch er fürchtete sich davor, es auszusprechen. Diese Stadt war von Außerirdischen okkupiert worden, die rein äußerlich wie Menschen aussahen, sich genauso verhielten und von einem amerikanischen Normalbürger nicht oder nur sehr schwer zu unterscheiden waren.

Als der Anthropologe schließlich im Hotel vor seiner Zimmertür stand, bemerkte er, dass sie ein wenig offen stand. Das Licht brannte. Neugierig drückte er die Tür noch weiter auf und nahm an, dass sich das Zimmermädchen darin befinden würde. Doch da hatte sich Mr. White geirrt.

In seinem Zimmer warteten zwei Männer auf ihn.

Es waren zwei große, sympathische Kerle, die alles andere als unheilvoll auf Mr. White wirkten. Beide waren sportlich gekleidet und hätten genauso gut gerade von einem Tennisplatz kommen können. Einer der beiden rauchte Pfeife.
Er kannte jedoch keinen von ihnen.

Hallo, Mr. White“, sagte der Mann mit Pfeife lässig und grinste dabei frech, „hoffentlich haben wir Sie nicht erschreckt.“

Und ob Sie das haben! Was machen Sie überhaupt in meinem Zimmer und wie sind Sie hier reingekommen?“

Das erklären wir Ihnen später. Wir würden uns nur gern mit Ihnen unterhalten, Mr. White – falls Sie Zeit für uns haben. Sie scheinen ja ganz schön beschäftigt zu sein, wie man sieht. Sie haben sich eine Menge Notizen gemacht. Höchst interessant, wirklich.“

Der Pfeifenraucher deutete mit der freien Hand auf die am Boden herumliegenden, beschrifteten Papierblätter.

Wissen Sie, ich bin Anthropologe, schreibe und zeichne viel. Das gehört zu meiner Arbeit. Aber fühlen Sie sich ruhig wie zu Hause, meine Herren. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben sollten, stehe ich Ihnen natürlich gerne zur Verfügung. Aber zuerst möchte ich wissen, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben. – Wollen Sie mich etwa entführen?“

Der Kerl mit der Pfeife lächelte etwas und sagte dann: „Sie kommen der Sache schon ziemlich nahe. Nicht entführen, aber freiwilliges Mitkommen würde ich mal sagen. Zum Schiff natürlich, wohin denn sonst Mr. White? Sie haben es doch gesehen – oder etwa nicht?“

Mr. White nickte fast automatisch mit dem Kopf. Seine Gedanken, die sich plötzlich wie im Kreis drehten, kamen immer wieder auf das Raumschiff zurück, welches er vor genau zwei Tagen da draußen in der nächtlichen Wildnis, keine zwei Meilen vor der Stadt, gesehen hatte. Widerstand war sowieso zwecklos, denn die beiden Burschen vor ihm waren ihm kräftemäßig haushoch überlegen.

Ich bin interessiert, meine Herren“, sagte der Anthropologe mit ruhiger Stimme und riss sich dabei innerlich zusammen. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf. Seltsamerweise spürte er dennoch keine Furcht, Das mochte wohl daran liegen, dass er sich inzwischen mit der Situation vertraut gemacht hatte und dass das hier viel zu unwirklich war, um sich tatsächlich fürchten zu können.

Der Pfeifenraucher nickte seinem Kollegen vielsagend zu und alle drei verließen zusammen das Hotel.

Sie stiegen in einen schwarzen Wagen und fuhren zur Stadt hinaus. Die beiden Fremden hatten die Vordersitze eingenommen und ließen Mr. White allein auf dem Rücksitz. Nach etwa zwanzig Minuten Fahrt bog der Wagen in einen kleinen Feldweg und blieb zehn Meter weiter in der Dunkelheit stehen. Der Fahrer stellte den Motor ab und schaltete das Licht aus. Kurz darauf verließen die drei Personen das abgestellte Fahrzeug und gingen schnurstracks auf einen offenen Weidezaun zu.

Mr. White entdeckte sie sofort. Die fünf bis sechs Meter große Kugel, die wie ein überdimensionaler Wasserball aussah. Das Ding bewegte sich leicht auf und ab in der Mitte einer kleinen Wiesensenke. Als sie dicht vor dem metallisch glänzenden Gebilde standen, öffnete sich sofort eine automatische Tür, und helles Licht strömte ihnen aus dem Innern entgegen. Nachdem alle eingestiegen waren, schloss sich die Tür wieder mit einem leisen Zischen. Wenige Augenblicke später erhob sich die Kugel in die Luft und Mr. White hatte das Gefühl, in einem rasenden Fahrstuhl nach oben zu sitzen. Obwohl er darum bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen, konnte er es nicht verhindern, dass sein Herz wie verrückt in seiner Brust hämmerte und sein Blut in den Ohren rauschte. Aber er hatte nicht die geringste Angst. Er wunderte sich nicht einmal darüber und nahm alles hin, weil ihm gar nichts anderes übrig blieb.

***

Irgendwann gab es einen sanften Ruck und die Kugel drehte sich langsam einmal um ihre eigene Achse, bis sie offenbar von irgendwas erfasst und arretiert wurde. Dann kam sie gänzlich zur Ruhe. Alles ging fast geräuschlos vor sich.

Der Pfeifenraucher drehte sich auf der Stelle herum und schaute Mr. White mit seltsam starren Blick an.

Ich möchte Ihnen etwas zeigen, was Sie sicherlich vorher noch nie gesehen haben. Erschrecken Sie bitte nicht, schließlich sind es ja die anderen, denen Sie schon die ganze Zeit wie vom Teufel besessen auf der Spur waren.“

Der Fremde stand auf und bat Mr. White, ihn zu begleiten.

Die Tür der Kugel öffnete sich wieder mit einem leisen Zischen und der Anthropologe verließ zusammen mit den beiden anderen Männern das Innere des Flugkörpers. Sie kamen durch eine Seitentür auf den Korridor eines riesigen Raumschiffes, das innen hell erleuchtet war. Mr. White empfand die Luft hier drinnen etwas dünner, als auf der Erde. Die Fremden marschierten mit ihm zusammen durch viele Gänge, passierten unzählige Türen und wuchtig geformte Schotts. Sogar Fahrstühle konnte Mr. White ausmachen und weitläufig angelegte Decks beobachten, auf denen bizarre Miniraumschiffe parkten.

Ganz plötzlich blieben die beiden Männer vor einer verschlossenen Tür stehen und der Pfeifenraucher drückte auf einen Knopf. Leise summend verschwand sie in einer hohlen Wand und ein bewaffneter Posten trat ins Bild.

Der gehört zu uns. Es hat alles seine Richtigkeit“, sagte der Begleiter des Pfeifenrauchers zu dem Wachposten, der nur kurz nickte und sich wieder davon machte.

Hinter dem Eingang befand sich ein großer Raum, der große Ähnlichkeit mit einem Kinosaal hatte. Es gab etwa zwanzig Reihen mit bequemen Sesseln. Dort, wo man auf der Erde eine weiße Leinwand erwarten würde, befand sich jedoch ein flimmernder Energievorhang, der sanft zu pulsieren schien.

Die beiden Fremden setzen sich in die vorderste Reihe und wiesen dem Anthropologen an, ebenfalls Platz zu nehmen.

Nun werden Sie uns kennen lernen, Mr. White. Das wollten Sie doch schon immer – oder? Wir haben Sie seit Ihrer Ankunft in Jackson Hill beobachtet und wussten schon bald, wonach Sie suchten. Sie hatten zuerst nur einen Verdacht, doch dann sind Sie auf unser Geheimnis gestoßen, dass diese kleine Stadt durch uns infiltriert worden ist. Ihr Pech, muss ich schon dazu sagen, denn wir können Sie nicht einfach so wieder gehen lassen, ohne Gefahr zu laufen, von der übrigen Menschheit entdeckt zu werden. Nicht das wir euch fürchten, im Gegenteil, Mr. White. Wir sind eine friedliche Rasse, trotz unserer hochtechnisierten Hyperzivilisation. Unsere Waffen sind denen der Menschen weit überlegen. Nur eure Atombomben könnten uns gefährlich werden, weil ihr sie möglicherweise sogar in selbstmörderischer Absicht einsetzen würdet und damit euren eigenen Planeten in eine tote Wüste verwandeln könntet. Das wollen wir natürlich nicht, denn wir streben danach, dass uns die Erde unversehrt in die Hände fällt. Wissen Sie, wir hatten schon Raumschiffe, da sprangen die Vorfahren des Homo sapiens sapiens noch auf den Bäumen herum, Mr. White. Als wir euren Planeten schließlich entdeckten, waren wir uns darüber einig, eine ganz besondere Strategie der Eroberung anzuwenden, die ich Ihnen aber nicht näher erklären möchte. Sie würden das sowieso nicht verstehen. Sie haben aber gleich die Gelegenheit dazu, diese Art des „humanen Vorgehens“ selbst am eigenen Körper zu erfahren. Also machen wir es kurz und fangen an.“

Die Energiewand vibrierte plötzlich. Mr. White hielt den Atem an, weil er merkte, dass er auf einmal ins Bodenlose fiel. Er versuchte instinktiv weiter zu atmen, aber da war keine Luft, sondern nur ein gigantischer, pechschwarzer Tunnel, größer als Erde und Mond zusammengenommen. Der alte Forscher fiel und fiel mit dem Kopf voran nach unten, auf ein unendliches Meer von hell strahlenden Lichtern zu.

Der rasante Sturz beschleunigte sich noch, bis er urplötzlich endete und Mr. White eine gewaltige Armada von Raumschiffen erblickte, die sich alle am Rand des dunklen Tunnels befanden. Sie näherten sich diesem Rand und nahmen Kurs auf Billionen von Sternen, die sich auch ihm in einem dahinter liegenden Universum offenbarten. Mr. White wusste: Das war nicht das Universum, in dem die Menschen existierten.

Der Anthropologe wollten schreien, als sich der dunkle Tunnel schlagartig weitete und die äußeren Ränder ins schier Grenzenlose verschwanden. Er hatte das Gefühl, ganz ohne Raumanzug im All zu schweben, das ihn zu verschlingen drohte. Plötzlich tauchte vor seinem Gesicht, wie aus einem trüben Nebelschleier kommend, das schemenhafte Bild eines alten Indianers auf. Dann verlor Mr. White das Bewusstsein.

Eine unendliche Stille breitete sich in ihm aus.

***

Der Himmel war von unzähligen Sternen bedeckt. Fern im Osten, wo eine flache Hügelkette den dunklen Horizont säumte, sah der alte Indianerhäuptling die ersten schwachen Strahlen der Morgensonne heraufziehen. Sein Stamm der Comanchen lag noch im tiefen Schlaf. In der Ferne heulte ein einzelner Kojote.

Der alte Indianerhäuptling stand aufrecht mit erhobenen Hauptes vor seinem Wigwam und hielt einen etwa zehn Zentimeter langen, grob gemeißelten Feuerstein in seiner rechten Hand, den er immer wieder mit wehmütigem Blick betrachtete. Es war ein Andenken aus einer fernen Welt, der Erde, die er nie wieder sehen würde, das wusste Mr. White nur zu gut. Die Fremden aus dem All waren verschwunden und hatten ihm dieses steinerne Artefakt von seinem Heimatplaneten anscheinend als greifbare Erinnerung mitgegeben.

Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Indianerdorf und vergrub den spitz geformten, messerscharfen Feuerstein etwa eine halbe Meile entfernt davon irgendwo im sandig trockenen Prärieboden. Danach kehrte er zurück ins Dorf, setzte sich vor den Eingang seines Zeltes und blickte hinauf zu den schimmernden Sternen einer Welt, die seine nicht war.


ENDE

(c)Heinz-Walter Hoetter


 


 


 


 

***


 


 

5. Der Berggeist


 

(Oder die fantastische Geschichte des Mr. Walter Woodstock und seiner Frau Franzis)

 

Die frische Luft hier oben in den Bergen einatmen zu können, war für Mr. Walter Woodstock jedes Mal die reinste Wohltat. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er aus beruflichen Gründen immer in irgendwelchen Großstädten gelebt, doch ein oder zwei Mal im Jahr machte er ausgiebig Urlaub auf seiner abgelegenen Gebirgshütte aus unbehandelten, kernigen Kiefernholzbrettern, die im Laufe der vielen Jahrzehnte durch die harten, permanent einwirkenden Witterungseinflüsse hier oben gelblichbraun verfärbt worden waren. Auf diese Weise hatte sich die alte Hütte immer unauffälliger der übrigen Berglandschaft angepasst.

Trotzdem wollte der Großstadtmensch Walter Woodstock nicht auf die schönen Annehmlichkeiten verzichten, welche ihm das Leben in einer modernen Zivilisation so bot. Auf seiner Hütte befanden sich deshalb ganz alltägliche Einrichtungsgegenstände wie ein elektrischer Kühlschrank, ein kleiner Gasherd mit zwei Kochplatten, eine spartanisch eingerichtete Dusche mit Warmwasser aus dem Boiler und zwei weiche Federkernmatratzen auf den Betten in einem viel zu engen Schlafzimmer. In einem kleinen Abstellraum im hinteren Teil des staubigen Hofes stand sogar ein Diesel betriebenes Stromaggregat.

Mr. Woodstock hockte auf der hölzernen Bettkante und knüpfte sich gerade die Bänder seiner alten, klobig aussehenden Wanderschuhe zu. Dann stand er prustend auf, stülpte sich einen schmierigen braunen Filzhut auf den Kopf und zog sich eine wasserdichte Regenjacke über. Schließlich stopfte er sich noch mehrere Schokoriegel und eine Schachtel Zigaretten in die Taschen, bevor er seinen röhrenförmigen Angelkasten mit den verschiedensten Utensilien sowie den Forellenkorb ergriff und Anstalten machte, die Berghütte zu verlassen.

Wie lange wirst du wegbleiben, Walter?“ fragte plötzlich eine verschlafene Frauenstimme aus dem Hintergrund.

Ich hab’s mir schon fast gedacht. Jetzt kommt wieder der übliche Dialog“, murmelte der achtundsechzigjährige Mann mürrisch vor sich hin und blieb in der Nähe der Tür wie angewurzelt stehen. Er wusste genau, was er sagen würde, und ebenso wusste er, was seine Frau Franzis darauf regelmäßig zur Antwort gab. Das Spielchen lief mit der Unvermeidlichkeit des Schicksals ab.


Schatz“, antwortete Mr. Woodstock mit freundlich aufgesetzter Mine und drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite. „Ich werde mich beeilen und so schnell wie möglich wieder zurückkommen.“


Kannst du mir wenigstens sagen, wohin du gehst?“

Aber natürlich. Ich gehe am Fluss entlang hinauf zu dem Bergsee. Wird eine anstrengende Kraxelei. Wenn du willst, kannst du gerne mitkommen. Ich würde draußen vor der Hütte auf dich warten, Liebling.“

Ich glaube nicht, dass mir das was bringt. Da oben gibt es für mich sowieso nicht viel zu tun. Ich würde mich bestimmt nur langweilen. Geh’ alleine, Walter! Ich werde schon etwas finden, womit ich mich beschäftigen kann. Vielleicht spaziere ich runter in die Stadt und besorge uns was zu lesen“, antwortete seine Frau Franzis, legte sich auf die Seite und verschwand wieder mit ihrem schwarz behaarten Lockenkopf unter der warmen Bettdecke.

Ja Franzis, tu das. Ich halte das für eine gute Idee.“

Der Mann seufzte, ging durch den angrenzenden Wohnraum hinüber zur Tür, öffnete sie und trat hinaus ins Freie.

Es war früh am Morgen. Draußen wehte ein leichter Wind, aber es war kalt und für einen kurzen Augenblick nahm ihm die Kälte den Atem. Die langsam aufgehende Sonne versteckte sich hinter den grauen Wolken und der alte Woodstock spürte noch ganz deutlich die Nacht, die Sterne und die unendliche Stille hier oben in den Bergen, die ein Vorhof der Ewigkeit zu sein schienen.

Mit bedächtigen Schritten marschierte er hinüber zu seinem wuchtigen Jeep, der neben der Hütte auf dem steinigen Bergweg stand. Der Motor des Geländewagens sprang erst nach dem dritten Versuch an – wie immer, wenn er die ganze Nacht im Freien verbracht hatte. Vielleicht lag es am Vergaser, der für Fahrten im Gebirge wohl nicht richtig eingestellt war, dachte sich Mr. Woodstock und setzte das Fahrzeug langsam in Bewegung. Der holprige Bergweg war etwa einen Kilometer lang, fiel leicht nach unten ab und mündete an seinem Ende in eine gut ausgebaute Bergstraße, auf der allerdings nur wenig Verkehr herrschte. Bog man nach rechts ab, kam man in die nah gelegene Stadt namens Mountain City, die etwa neun Kilometer entfernt in einem tiefen Tal lag.

Mr. Woodstock lenkte seinen schweren Jeep genau in die andere Richtung, nämlich nach links, wo es hinauf in die Berge ging.

Mit eintönigem Brummen verließ der Geländewagen den schmalen, holprigen Bergweg, setzte seine Fahrt auf der geteerten, zweispurigen Gebirgsstraße fort und überquerte nach etwa zwei Kilometer eine kleine steinerne Bogenbrücke, hinter der, keine fünfzig Meter weiter, eine wenig befahrene Nebenstraße abzweigte, die in unmittelbarer Nähe eines reißenden Flusses entlang führte, der Stanton River hieß.

Wasser des Flusses war smaragdgrün. Seine Ufer waren von grünem Buschwerk und vielfarbigem Kiesel begrenzt. Mr. Woodstock öffnete das Fenster und konnte trotz des laufenden Dieselmotors das eisige Wasser neben der Straße sanft rauschen und plätschern hören. Aber er kannte den Stanton River; er war ein schneller, tiefer und reißender Fluss.

Der Alte verließ nach einer Weile die Flussstraße und gelangte an einen gewundenen Pfad, der direkt nach oben in die Berge führte. Er parkte den Jeep zwischen zwei dicht stehenden Büschen, öffnete die Tür und kletterte hinaus. Dann klaubte er seine Ausrüstung auf und ging mit weit ausholenden Schritten den schmalen Bergpfad entlang, der sich neben dem weißschäumenden Wasserstrom weiter in die Berge hinauf schlängelte. Neben einem Felsstück lag eine verrostete Konservendose als Zeichen dafür, dass diese abgelegene Stelle schon mal von einem Menschen betreten worden war. Er selbst hatte sie vor einer Woche aus Unachtsamkeit dort liegen gelassen. Es wird nicht wieder vorkommen, dachte sich der alte Mann und ging bedächtigen Schrittes weiter.

Die meiste Zeit verlief der Fluss zu seiner rechten. An einigen Stellen musste er ihn überqueren, weil Felsen und umgefallene Bäume den Weg versperrten. Zum Glück war das Wasser meistens nicht sehr tief, dafür war es aber eiskalt und seine Bergschuhe quietschten wie alte Gummireifen bei jedem Schritt, wenn sie nass wurden.

Walter Woodstock wusste, dass der Stanton River eine Menge Forellen barg, deren Flossen mit den quirligen Wellen spielten und die in den dunklen schattigen Tümpeln flink und schnell hin und her schwammen. Sie waren manchmal so zahlreich, dass er damit rechnen konnte, mehr als neun oder zehn von ihnen zu fangen, wenn er nur lange genug da blieb. Aber für diesen Tag hatte er sich insgeheim mehr vorgenommen.

Nur wenige Urlauber wussten, dass über der Baumgrenze ein versteckter Bergsee lag, der von schmelzendem Eis gespeist wurde, und genau dort waren die Forellen besonders zahlreich, aber auch besonders hungrig. Die Forellen in diesem See unterschieden sich in ganz erheblichem Maße von den meist trägeren Zuchtfischen, die in die leicht erreichbaren Ströme geworfen und wieder von Anglern und Fischern gefangen wurden, bevor sie überhaupt ihr geschenktes Dasein in der freien Natur richtig ausleben konnten.

Der See lag in einer Höhe von mehr als 3800 Meter und deshalb kamen hier so gut wie nie irgendwelche Sonntagsangler her. Der enorm steile Weg war ihnen zu beschwerlich.

Mit keuchenden Schritten stieg Mr. Woodstock in gleichmäßigem Tempo auf.

Er wusste, dass sein Arzt ihm derartige Aufstiege verboten hatte, aber er kümmerte sich nicht darum. Er wusste auch, dass er noch lange nach dem Abstieg später todmüde sein würde; aber er ließ sich davon nicht abhalten. Er war eben ein alter, sturer Dickkopf, der sich so schnell von niemandem etwas sagen ließ, auch von seinem Doktor nicht.

Die Sonne versteckte sich immer noch hinter einer grauen Wolkenbank. Ohne sich irgendwo lange aufzuhalten, war sich der alte Woodstock trotzdem der herrlich aussehenden Umgebung bewusst. Überall standen dunkle Kiefern und vereinzelte Gruppen von Espen, deren schlanke, weiße Äste hell schillerten, wenn sie von einem hervorschießenden Sonnenstrahl aus der dichten Wolkendecke getroffen wurden. Überall flogen Insekten herum und der sanfte Wind, der durch die hohen Bergbäume strich, ließ ihre Wipfel wie mahnende Zeigefinger hin- und herwogen.

Ach, wenn ich doch für immer hier herkommen und an diesem schönen Ort leben könnte, dachte der alte Mann so für sich, schaltete aber gleich wieder die Vernunft ein: Im Winter wäre es in den Bergen keinesfalls angenehm, da man in dieser Abgeschiedenheit jämmerlich erfrieren würde, wenn man in Gefahr geriete. Und damit hatte er Recht. In dieser harten Gebirgswelt hier oben konnte auf Dauer kein Mensch überleben, schon gar nicht, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hatte. Im Tal weiter unten war das schon ehr möglich. Aber dort wollte Mr. Woodstock auf keinen Fall die letzten Jahre seines verbleibenden Lebens verbringen.

Zügig und mit stoßendem Atem stieg Mr. Woodstock weiter den Pfad hinauf. Kurze Zeit später hatte er die Baumgrenze erreicht und der schmale Weg wand sich durch Felsblöcke und dichtes Gestrüpp weiter nach oben. Der Fluss war jetzt nur noch ein paar Meter breit, stürzte dafür aber umso heftiger tosend und mit großer Fließgeschwindigkeit talabwärts.

Endlich hatte der Alte den einsam da liegenden Bergsee erreicht, der allerdings nicht besonders eindrucksvoll aussah. Er war glatt, fast rund und hatte einen Durchmesser von ungefähr fünfzig oder sechzig Meter. Mittlerweile war an einigen Stellen die Wolkendecke aufgerissen, sodass die Sonne ihre Strahlen zur Erde schicken konnte. Auch hier war das Wasser smaragdgrün. Nur wenige Stellen, die im Schatten der Felsen lagen, wirkten schwarz. Im Hintergrund lag auf den hoch aufragenden Berggipfeln noch eine Menge Schnee, der jetzt im Licht der hellen Sonne besonders weiß glänzte.

Hier oben war es so still, als wäre die Welt erst vor wenigen Augenblicken geschaffen worden. Die Schöpfung war noch ganz frisch, sauber, rein und neu.

Schließlich traf Walter Woodstock seine Vorbereitungen für den bevorstehenden Forellenfang. Er setzte sich auf einen kleinen Felsen. Sein Körper zitterte plötzlich ein wenig vor Kälte, als er zur Ruhe kam. Er wünschte sich, dass die dunkle Wolkendecke noch mehr aufreißen oder sich am besten ganz verziehen würde, obgleich, soviel er wusste, das Sonnenlicht zum Angeln nicht günstig war.

Als er die Angelrute ins ruhige Seewasser plumpsen ließ und so still wie möglich da saß, schien die Welt um ihn herum im Nichts zu versinken. Er vergaß alles andere, auch das Versprechen seiner Frau Franzis gegenüber, bald wieder zurück zu sein.

Nach und nach füllte sich der Korb neben ihm mit prächtigen Forellen. Die Zeit schien für ihn nicht mehr zu existieren. Doch unbemerkt war die Sonne ganz überraschend wieder verschwunden, die grauen Wolken über ihn nahmen an Dichte zu.

Mit einem Schlag kam ein heftiger Sturm auf, der den einsamen Angler am See mit lähmender Plötzlichkeit traf. Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich der kleine Bergsee in einen brodelnden Mahlstrom. Die Kälte nahm zu und Walter Woodstocks Hände wurden klamm und gefühllos, sodass er sie fast nicht mehr bewegen konnte.

Dann schlugen auch noch Hagelkörner aus den pechschwarzen Wolken. Es waren runde, schwere Eiskugeln, die auf ihn einstürzten, auf die umliegenden Felsen krachten und klatschend auf das Wasser prasselten. Man hätte den Eindruck haben können, die Welt ginge unter.

Zuerst hatte der alte Woodstock keine Angst. Im Gegenteil. Er war nur leicht über den heftigen Wetterumschwung verärgert, weiter nichts. Er steckte die Angelrute ein und ging zu seinem Lagerplatz, wo er die übrigen Sachen abgelegt hatte.

Der Hagel wurde noch schlimmer. Jetzt wurde es auf einmal gefährlich. Der alte Mann stand aufrecht in der Gegend, um eine möglichst kleine Zielscheibe zu bieten. Mit der rechten Hand hielt er seinen Filzhut fest.

Auch der Sturm wurde noch stärker. Der heftig Wind blies ihm die Hagelkörner mitten ins Gesicht. Mr. Woodstock schaute mit halb zugekniffenen Augen verzweifelt um sich. Aber nichts Tröstliches war zu sehen. Die zerklüfteten Felswände waren vom herabprasselnden Hagel zugedeckt worden, und die schöne Bergwelt, die er vor ein paar Stunden noch bewundert hatte, bot nun einen furchterregenden Anblick. Er sah auf die Uhr; es war schon fast Mittag. Die Zeit war wie im Flug vergangen.

Mr. Woodstock überlegte. Unter diesen schlechten Wetterbedingungen brauchte er mindestens zwei Stunden bis zu seinem Geländewagen. Aber vielleicht lies der Hagel ja bald nach, dachte er sich und drehte seinen Rücken gegen den Wind. Trotz der widrigen Umstände gelang es ihm, sich eine Zigarette anzuzünden. Walter Woodstock war schlecht gelaunt, als er sich innerlich gestehen musste, dass die Zivilisation trotz allem ihre Vorteile hatte.

Nach der Zigarette kramte er so gut es ging seine Sachen zusammen und marschierte zum Pfad zurück. Der Hagel prasselte noch heftiger auf ihn herab, anstatt nachzulassen. Es war kaum etwas zu erkennen. Ein Gefühl von Panik kam in dem alten Mann hoch. Er war ja nicht mehr der Jüngste, der mit seinen Kräften verschwenderisch umgehen konnte.

Beruhige dich!“ sagte er zu sich selbst, um sich Mut zu machen. Mühsam versuchte er sich zusammenzunehmen.

Die Sicht wurde immer schlechter. Der Flusslauf neben dem schmalen Weg war kaum noch zu sehen. Wenn die Wolken nicht aufrissen, würde es in wenigen Stunden stockdunkel sein.

Wieder beschleunigte der alte Woodstock seine Schritte. Dann rutschte er plötzlich aus und fiel kopfüber auf den Boden. Zum Glück landete er im drahtigen Buschwerk und zerkratzte sich dabei nur ein wenig das ungeschützte Gesicht. Mühsam rappelte er sich wieder hoch und ging vorsichtig weiter.

Dann blieb er stehen, hielt seine Hand schützend über die Augen und versuchte, irgendeine Zuflucht zu erspähen.

Da! War da nicht was?

Ein Felsdach direkt neben dem Pfad, das ihm Schutz bieten konnte. Walter Woodstock stellte seine Sachen ab und kletterte trotz Hagel und Wind die schräge Felswand hinauf. Ich muss da hin, koste es, was es wolle. Lange wird die Regenjacke nicht mehr das viele Wasser abhalten können, dachte er und strebte zäh seinem schützenden Ziel entgegen. Der stechende Hagel schlug ihm ins Gesicht, der Filzhut wurde ihm heruntergerissen und flog davon. Woodstock fluchte deshalb wie ein Landsknecht.

Endlich!

Fast hatte er den überhängenden Felsen erreicht, der unterhalb davon wie eine Nische geformt war. Noch eine letzte, kurze Anstrengung, dann schwang er sich hinein und setzt sich erst einmal erschöpft in die Hocke.

Der Wind erreichte ihn zwar immer noch, aber vor dem Hagel und der Nässe war er jetzt geschützt. Er bückte sich noch tiefer herab, bis ans Ende des Felsenschutzes.

Da!

Im nächsten Moment erspähte er eine oval geformte Öffnung, die gerade groß genug war, seinen Körper durchzulassen.

Hatte er etwa rein zufällig den Zugang zu einer Höhle gefunden? Dem alten Woodstock war das momentan egal. Er holte tief Luft, tastet mit beiden Händen die kalten Steinwände ab und zwängte sich mit eingezogenem Bauch durch den offenen Spalt ins Innere des Felsens.

***

Drinnen war es zu dunkel, um etwas deutlich erkennen zu können. Langsam tastete sich Mr. Woodstock weiter vor, blieb aber dann doch abrupt stehen, um in der Jackentasche nach seinen Streichhölzern zu suchen. Er wollte sich nicht leichtsinnig in Gefahr bringen. Als er die Streichholzschachtel endlich in einer wasserdichten Plastikhülle gefunden hatte, zündete er ein Streichholz an und schaute sich um. Es musste wohl eine Art Höhle sein, überlegte er; obgleich die Decke ziemlich niedrig war, konnte er nur an einer Seite etwas ausnehmen. Keine fünf Schritte vor ihm nahm er außerdem ein metallisches Glänzen wahr – vielleicht eine Erzader oder etwas ähnliches, dachte sich der Alte und ging langsam im flackernden Lichtschein weiter.

Das Streichholz verglomm. Sofort zündete er ein neues an.

Stück für Stück tastete er sich vor. Vielleicht bin ich ja der erste Mensch, der diese Höhle jemals betreten hat, dachte Mr. Woodstock und starrte in die Dunkelheit hinein. Normalerweise würde ihm dieser Gedanke sogar ein leichtes Vergnügen bereiten, wenn die Umstände anders gewesen wären, aber im Augenblick fühlte er sich nicht besonders gut, um von seiner Entdeckung beeindruckt zu sein. Seine klobigen Wanderschuhe waren mittlerweile durchnässt, die Kälte kroch ihm langsam unter die Haut. Außerdem gab es nichts in der Höhle, womit er ein Feuer machen konnte.

Er blieb wieder stehen und lauschte. Der winzige Lichtschein flackerte unruhig auf und ab. Draußen vor der Höhle jaulte und tobte nur wenige Meter von ihm entfernt der Sturm mit eisiger, durchdringender Wildheit.

Das Streichholz brannte ab, das Licht erschloss abermals. Wieder wurde es dunkel um ihn herum.

Mr. Woodstock hatte an alles gedacht, nur an eine Taschenlampe nicht. Er war deshalb etwas verärgert. Dann kramte er nach seinen Zigaretten, die er schließlich irgendwo in einer der Brusttaschen fand und zündete sich eine an. Der Rauch wärmte ihn ein wenig, zumindest bildete er sich das ein. Walter Woodstock überlegte, während er so vor sich hinrauchte, was er tun sollte.

Er stieß mit seinem rechten Fuß gegen einen großen Felsbrocken, der direkt vor ihm lag. Der Alte setzte sich vorsichtig drauf und blies den Rauch seiner Zigarette in die Dunkelheit hinein. Zwischendurch nahm er eine von diesen Grippetabletten ein, die er stets bei sich trug. Man konnte ja nie wissen, dachte er so für sich und schluckte sie ohne einen Tropfen Wasser runter.

Walter Woodstock wurde müde.

Er rutschte mit seinem Hintern auf den nackten Felsbrocken hin und her um eine etwas bequemere Lage zu finden, musste aber bald feststellen, dass der Felsen überall gleich spitz und scharf war. Deshalb rollte er sein großes Taschentuch als Kissen zusammen, setzte sich vorsichtig drauf und schloss für einen Moment die Augen...

Draußen heulte unablässig der Sturm. Der Hagel hatte jetzt fast ganz nachgelassen, dafür regnete es noch ein wenig. Ab und zu schlugen hier und da ein paar Tropfen auf, dann wurde es schlagartig ruhig vor der Höhle. Plötzlich fiel fahles Mondlicht durch den schmalen Spalt, von wo aus er gekommen war und erfüllte den felsigen Raum mit einem geisterhaften, silbrigen Schein.

Der alte Woodstock saß bewegungslos auf dem nasskalten Gestein. Die Zigarette glimmte langsam vor sich hin. Die Welt da draußen schien sich immer weiter von ihm zu entfernen. Wieder übermannte ihn eine bleierne Müdigkeit.

Plötzlich ließ ihn ein Geräusch hochfahren. Ein metallisches Klicken, kurz und gedämpft, machten ihn wieder hellwach. Etwas befand sich mit ihm zusammen in der Höhle. Er hielt den Atem an und suchte angestrengt mit seinen Augen, so gut es eben ging, in der schummrigen Dunkelheit die glitzernden Felswände ab.

Wieder so ein komisches Geräusch. War es wohlmöglich ein Tier? Es hörte sich so an, als ob jemand mit seinen Fingernägeln kratzend über eine Schiefertafel streicht.

Wieder versuchte der Alte, die Dunkelheit mit dem starren Blick seiner Augen zu durchdringen, aber es war zu wenig Licht vorhanden und die Umrisse verschwanden umso mehr, je länger er in die Dämmerung blickte. Mit einmal gab es für Woodstock keine Sicherheit mehr. Er fühlte sich hilflos und dem Schrecken einer urtümlichen Dunkelheit ausgeliefert.

Langsam ließ er sich deshalb von dem Felsbrocken gleiten und kroch vorsichtig zum Höhlenausgang. Nur raus hier, war sein einziger Gedanke. Gerade, als er sich durch den schmalen, ovalen Spalt ins Freie zurück zwängen wollte, hörte er hinter sich wieder dieses seltsame Geräusch.

Mr. Woodstock schaute über seine Schulter nach hinten, obwohl er das eigentlich nicht wollte, aber seine verdammte Neugier war größer, als seine Angst.

Irgend etwas öffnet sich.

Dann sah er eine Gestalt, die aus dem Loch hinten in der Höhle kam. Sie war groß und musste sich bücken, um nicht an die Decke zu stoßen. Das Gesicht des unbekannten Wesens sah aus wie ein Leichentuch. Es hatte Augen, sehr große Augen sogar. Es blickte zu dem kriechenden Woodstock hinüber und kam langsam auf ihn zu.

Der alte Mann konnte plötzlich an nichts mehr denken, sein Gehirn war wie paralysiert. Aber seine Muskeln reagierten automatisch, und er warf sich mit allerletzter Kraft, die er jetzt noch aufbringen konnte, aus der Höhlenöffnung nach draußen und rollte im nächsten Moment über den Felsenabhang hinunter in die Tiefe. Benommen blieb er unten auf dem Pfad liegen, den er im Hagelsturm verfehlt hatte, rappelte sich aber sofort wieder auf und lief in Richtung Fluss, der jetzt vom Regen hoch angeschwollen war. Er erreichte das tosende Wasser, das im silbrigen Mondlicht fast schwarz wirkte. Mr. Woodstock keuchte und schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Fast wäre er ausgerutscht und in die brausenden Fluten gestürzt, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig an ein paar dünnen Ästen festhalten und zurückhangeln. Nochmals warf er einen Blick nach hinten. Er konnte aber nichts in der vom fahlen Mondlicht getränkten Umgebung sehen. Außer dem Raunen des Windes und des vorbei tosenden Flusswassers war kein anderes Geräusch zu hören. Vorsichtshalber nahm er einen scharfkantigen Stein in die Hand, den er als Waffe benutzen wollte, wenn ihn jemand angreifen würde. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Pfad zu und stieg vorsichtig weiter hinab. Wenn er nur erst bei den Bäumen wäre! Dort könnte er sich vielleicht sogar verstecken!

Schüttelfrost erfasst seinen geschundenen Körper. Eine schreckliche Angst stieg in ihm hoch. Er hatte das Gesicht eines fremden Lebewesens in der Höhle gesehen, daran bestand kein Zweifel. Es war kein Traum oder eine Halluzination gewesen, und er war auch nicht verrückt. Er musste sich auch nicht unbedingt in den Arm kneifen, um sich zu beweisen, dass er in der Wirklichkeit zuhause war. Seine Sinne hatten ihm keinen Streich gespielt. Eine unbekannte Kreatur hielt sich dort in der Höhle auf und war ihm sogar gefolgt. Der Kerl, wenn man ihn als solchen bezeichnen wollte, war ziemlich groß gewesen, vielleicht war er ein Irrer, der sich in dieser unwirtlichen Gegend herumtrieb. Am besten wäre es wohl, wenn er Hilfe herbeiholen und bei Tageslicht nachschauen würde, was da oben vor sich ging.

Wieder hörte er von irgendwo her ein Geräusch. Waren es Schritte, die am Boden liegende kleine Äste und Zweige zertraten? War es der tosende Fluss oder ein Tier, das durch den Wald schlich?
Mr. Woodstock konnte es nicht sagen. Er war im Augenblick etwas durcheinander. Er beschleunigte daher seine Schritte und versuchte vom Ort des Schreckens so schnell wie möglich weg zu kommen. Den Stein hielt er fest umklammert. Abwärts ging es schneller als aufwärts. In weniger als zehn Minuten müsste er eigentlich die Waldgrenze erreicht haben. Sollte er sich lieber doch gleich zum Wagen durchschlagen? Durch das anstrengende Gehen fühlte er sich schon etwas wärmer, aber trotzdem war die Kleidung noch unangenehm feucht. Allmählich wurden seine Bewegungen gelöster. Der anfängliche Schock hatte sich etwas gelegt. Je weiter er sich von der Höhle entfernte, desto sicherer wurde sein Gefühl, dass ihm jetzt nichts mehr passieren konnte, dachte er zu seiner eigenen Beruhigung.

Der Pfad machte vor ihm eine scharfe Kurve nach rechts und fiel dahinter steil ab. Walter Woodstock atmete erleichtert auf, denn er kannte diese markante Biegung vom Aufstieg her. Sein Jeep war demnach nicht mehr weit weg. Er begann deshalb zu laufen und bog mit einer ziemlichen Geschwindigkeit in den scharfkurvigen Pfad ein. Durch das helle Mondlicht warfen die Bäume lange Schatten, was ihn ein wenig irritierte. Doch er lief unbeirrt weiter. Im nächsten Moment stoppte er auch schon wieder aus vollem Lauf und wäre beinahe gestürzt. Wild mit seinen Armen herum fuchtelnd hielt er sich gerade noch soeben im Gleichgewicht. Der Schreck fuhr ihm dabei gleichzeitig durch sämtliche Glieder.

Die seltsame Kreatur aus der Höhle stand plötzlich wie eine Geistererscheinung mitten auf dem Pfad am Ende der scharfen Kurve und wartete offenbar schon auf ihn.

Sie stand dort, wie zu einer Salzsäule erstarrt, das Mondlicht ließ nur einzelne Teile von dem unbekannten Wesen erkennen, nur das Gesicht zeigte sich deutlich, das leichenblass war und ihn mit großen weiten Augen anstarrte. Es war auf jeden Fall größer als Mr. Woodstock und außerdem sehr schlank.

Nachdem sich der Alte vom ersten Schreck etwas erholt hatte, dachte er darüber nach, die auf dem Pfad vor ihm völlig unbewegliche da stehende Gestalt einfach laut etwas zu fragen. Vielleicht würde er eine Antwort bekommen. Ein Versuch könnte ja nicht schaden. Sollte wirklich eine Gefahr von diesem fremden Wesen ausgehen, könnte er noch immer seitlich die Geröllböschung runterspringen und sich in die Büsche schlagen, um sich dort zu verstecken.

Hey Mann, wer sind Sie und was wollen Sie von mir? Antworten Sie!“ rief Mr. Woodstock mit schriller Stimme und wartete.

Die unheimliche Kreatur schwieg. Nur der nah gelegen Fluss rauschte tosend vorbei.

Keine Antwort.

Der Alte versuchte es noch einmal. Er umklammerte den Stein mit festem Griff. Er würde auf gar keinen Fall in die Berge zurücklaufen. Dafür war es jetzt zu spät.

Lassen Sie mich vorbei! Machen Sie mir Platz“, rief er erneut.

Das seltsame Wesen machte immer noch keine Anstalten, auf die Seite zu treten, damit Walter Woodstock auf dem schmalen Pfad ungehindert weitergehen konnte. Es antwortete auch nicht.

Früher war er mal ein guter Sportler gewesen, was ihm jetzt zugute kam. Er warf einen flüchtigen Blick nach vorne, holte ein paar Mal tief Luft und stürmte mit dem Gesteinsbrocken in der rechten Hand auf die stumm da stehende Kreatur los. Er war zu allem bereit.

Die unbekannte Erscheinung hob auf einmal den Arm und hielt einen blitzenden Gegenstand in der Hand, den sie auf den anstürmenden Läufer richtete. Im nächsten Augenblick blitzte es hell auf und Mr. Woodstock fiel flach auf den Boden, wo er direkt vor der wartenden Kreatur zu liegen kam. Obwohl er bei vollem Bewusstsein war, konnte er weder Arme noch Beine bewegen. Das fremde Wesen schien offensichtlich ein Mann zu sein, der über enorme Kräfte verfügte. Ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, hob er den Alten auf und legte ihn sich über die Schulter, zwar nicht unvorsichtig, aber doch mit einer ziemlichen Gleichgültigkeit, als trüge er einen Sack Kartoffeln spazieren.

Der riesige Kerl stieg mit Mr. Woodstock auf der Schulter wieder nach oben zum See hinauf, ohne dabei auch nur eine einzige Pause zu machen, um den schweren Körper abzusetzen. Das Typ hatte nicht nur Riesenkräfte, sondern verfügte außerdem noch über eine gehörige Portion Ausdauer, was auf gar keinen Fall zu seinem blassen Gesicht passte.

Bald waren sie wieder an jener Stelle angekommen, wo der ovale Spalt in die Höhle führte. Der Unbekannte kroch zuerst durch die Öffnung und zog den paralysierten Alten hinter sich her wie eine erlegte Beute. Dann zerrte er ihn quer durch den dunklen Raum, bis zu einer metallisch glänzenden Pforte, die aussah wie das wasser- und druckdichte Schott eines Schiffes. Der Mann öffnete mit einer geheimnisvoll anmutenden Handbewegung die mannshohe Tür aus glattpoliertem Metall, stieg durch die Öffnung und zog den leblosen Köper Woodstocks hinter sich her ins Innere.

Die Lichtverhältnisse waren nicht besonders gut. An den glatten Wänden leuchteten eine Menge kleiner diodenähnlicher Lämpchen. Einige von ihnen blinkten in verschiedenen Farben Trotzdem konnte Mr. Woodstock etliche Details erkennen, die ihn in ein ziemliches Erstaunen versetzten. Offenbar befand er sich in einem Raum, der mit einer ganz besonderen Art von Elektronik nur so vollgestopft war. Weiter vorne befand sich ein wuchtiger Sessel mit breiter, wulstiger Kopflehne und über der ganzen Konstruktion hing eine gläserne Kuppel.

Plötzlich zielte der Mann wieder mit dem geheimnisvollen Gegenstand auf Mr. Woodstock. Ein kurzes Zischen entfuhr dem Ding und im nächsten Augenblick strömte ganz langsam und unbeschreiblich kraftvolles Leben durch den paralysierter Körper des Alten. Die Lähmung am ganzen Körper fiel von ihm sukzessive ab. Der Fremde beobachtete die Reaktion, wartete einfach und sagte nicht ein einziges Wort. Dann fiel der alte Mann in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

***

Mr. Walter Woodstock lag auf einer Art Pritsche, als er wieder aufwachte. Sein Hinterkopf schmerzte, als stächen tausend kleine Nadeln gleichzeitig zu. Er blickte sich um, konnte aber nichts darüber sagen, wo er sich befand. Wie lange war er schon hier? Er seufzte. Am liebsten hätte er einen lauten Schrei von sich gegeben und wäre davongelaufen. Aber wohin? Mr. Woodstock glaubte sich in einem Alptraum zuhause. Das leichenblasse Gesicht war jetzt dicht neben dem seinen.

Ich befinde mich in den Händen eines Irren, dachte sich der Alte entsetzt, dem jetzt alle möglichen Bilder grausamster Art durch den Kopf schossen. In diesem Moment stellte ihm der blasse Mann einen Teller mit Essen auf den Tisch und deutete an, er solle sich von seiner Liege erheben und etwas zu sich nehmen, in dem er auf seinen Mund zeigte. Woodstock wollte es zuerst ablehnen, aber der Hunger quälte seinen leeren Magen schon seit vielen Stunden. Schließlich griff er zu, zog den Teller zu sich heran und aß begierig das gebratene Fleisch, das vorzüglich schmeckte.

Danke!“ sagte er nach dem Essen, als der Fremde ihm noch ein Glas frisches Wasser reichte.

Der Mann nickte nur mit dem Kopf, antwortete aber auch diesmal nicht, sondern beobachtete ihn nur und lächelte verständnisvoll. Dann legte er den Arm um ihn und half ihm hoch. Mr. Woodstock fühlte sich ein wenig schwindelig, konnte sich aber nach einer Weile von selbst aufrecht halten.

Woher sollte man wissen, ob der Fremde einem gut oder böse gesonnen war? Oder ob er sich aus irgendeinem Grunde nur selbst schützen wollte? Vielleicht wollte er sich nur gegen einer Gefahr erwehren, die ihn bedrohte.

Wer sind Sie? Bin ich Ihr Gefangener?“ fragte er den blassen Mann spontan, der ihn nur verdutzt anblickte.

Auf einmal konnte dieser sprechen, als hätte er nur darauf gewartet, dass der alte Mann ihn etwas fragen würde.

Natürlich sind Sie nicht mein Gefangener. Ich möchte Ihnen nur helfen, weiter nichts“, sagte der Fremde mit langsamer, tiefer Stimme.

Aber Sie haben nicht das Recht dazu, mich hier einfach festzuhalten. Sie haben mir nichts erklärt, nichts gesagt, was das hier alles soll. Woher kommen Sie eigentlich und was machen Sie hier oben in den Bergen so ganz allein. Sind Sie ein Einsiedler oder was?“ fragte ihn Mr. Woodstock mit aufgeregter Stimme.

Der Mann mit dem blassen Gesicht sah ihn jetzt mit ernstem Blick an. Dann runzelte er plötzlich die Stirn.


Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Aber ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Demphil Orakoon und komme vom Planeten KIRGOON WATTH, der 150 Millionen Lichtjahre von eurer Erde entfernt in einer Spiralgalaxie liegt, die in etwa der Milchstraße ähnelt. Beim letzten Hypersprung gab es irgendeine Fehlfunktion im Raum-Zeit-Konverter. Die Magnetfeldfessel der Antimaterie zeigte einige gefährliche Schwankungen an. Ich musste daher zwangsweise mit meinem Raumschiff auf eurem Planeten notlanden und verstecke mich seitdem hier oben in der einsamen Bergregion. Eurer Zeitrechnung nach war das vor mehr als zwei Monaten. Ich komme nur langsam mit den komplizierten Reparaturarbeiten weiter. Aber ich bin fast fertig. Sie werden doch verstehen, dass ich Sie nicht einfach wieder so laufen lassen kann. Ich kenne euch Menschen nämlich. Sie würden sofort Hilfe holen, Mr. Woodstock, und bald hätte man mich entdeckt. Das wäre eine Katastrophe, nicht für mich, sondern für euch. Ich will euch Menschen nichts Böses tun, dir schon gar nicht, aber wenn man mich hier oben aufstöbert, müsste ich das mit aller Macht zu verhindern suchen, indem ich meine Waffen aktiviere, die darauf programmiert sind, alles zu vernichten, was sich meinem Raumschiff nähert. Die Reparaturen am schadhaften Magnetring werden bald beendet sein. Ein paar Tests noch, dann werde ich, sobald die Dunkelheit hereingebrochen ist, die Erde wieder verlassen und einen neuen Hypersprung initiieren, der mich nach Hause bringen wird. Bis dahin werde ich Sie hier behalten müssen, Mr. Woodstock. Danach können Sie wieder machen, was Sie wollen.“


Mr. Woodstock kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sprachlos und mit offenem Mund hatte er die Rede des außerirdischen Wesens verfolgt. Es war die reinste Sensation, das dieses Wesen aus dem All seine Sprache so gut beherrschte und jedes Wort verstand.

Woher kennen Sie meinen Namen, Orakoon?“ fragte er den Außerirdischen.

Nichts Leichteres als das. Wir können eure Gedanken lesen.“

Walter Woodstock saß erschrocken da und schwieg. Die eigentümlich grauen Augen des fremden Wesens aus dem All schweiften in die Ferne. Es versuchte eine Geschichte zu erzählen, die jenseits allen Erzählbarem lag, die sich über einen Abgrund von Raum und Zeit hinweg streckte, der nicht so ohne weiteres zwischen ihm und dem Fremden überbrückt werden konnte.

Es tut mir leid. Aber ich wollte Ihnen durch meine Gegenwart keine Schwierigkeiten bereiten. Ich habe die Höhle nur durch Zufall gefunden. Mehr nicht“, sagte Mr. Woodstock mit leiser Stimme zu dem Raumfahrer, der jetzt die Augen geschlossen hatte. Er öffnete sie erst wieder, als er zu sprechen anfing.

Ja, ich weiß. Aber das ist keine Höhle, sondern der Eingang zu meinem Raumschiff. Die dreidimensionalen Projektoren haben eine massive Bergsimulation um das Raumschiff gelegt, um es der Umgebung anzupassen. Ich dachte die ganze Zeit, dass niemand von euch Menschen hier oben in diese gottverlassene Gebirgsregion kommen würde. Ich habe mich wohl geirrt. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nach dem Start wird eine kleine Gerölllawine den Berg runtergehen, was ich leider nicht ganz verhindern kann. Aber ich habe dafür gesorgt, dass sie keinen Schaden anrichten wird.“

Was geschieht mit mir? Werde ich noch rechtzeitig von hier wegkommen, bevor es gefährlich für mich wird?“

Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Mr. Woodstock. Ihnen geschieht nicht das Geringste. Glauben Sie mir...!“ gab Demphil Orakoon mit Bestimmtheit zur Antwort. Dann schloss er wieder die Augen. Zu der Stille des Raumes gesellte sich ein langes Schweigen.

***

Ein Ton.

Das war das erste.

Er drang in sein Bewusstsein ein, wie die sanfte Musik einer Harfe. Es war eine Stimme, die sprach, flüsterte...

Er öffnete die Augen. Licht drang in sein Gehirn. Es schmerzte. Er blinzelte ein wenig. Unter seinem Körper fühlte er den nackten Felsen, sein Herz arbeitete wie ein heftiger Kolben, durch seine Adern pochte das Blut...

Ich bin wach.“ Seine Stimme klang laut und heiser. „Ich bin nicht tot. Ich lebe!“ schrie Walter Woodstock vor lauter Freude.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

Bleiben Sie ruhig liegen, Mr. Woodstock. Es wird alles wieder gut. Wir bringen Sie jetzt in ein Krankenhaus unten im Tal. Sie sind stark unterkühlt. Es ist aber alles soweit mit Ihnen in Ordnung. Sie werden bald wieder auf den Füßen sein...“ sagte der Notarzt zu ihm, bevor er die Hecktür des Rettungswagens von außen schloss und dem Fahrer ein kurzes Zeichen gab, dass er jetzt wegfahren könne.

Mr. Walter Woodstock blieb ruhig liegen und sammelte seine Gedanken. Dann kamen die Erinnerungen zurück.

Er hörte es.

Ein dumpfes Grollen, wie Donner aus der Ferne. Ein Brüllen, ein Geräusch wie tausend Hurricans zusammen genommen.

Er sah es.

Es flog über ihn hinweg mit blinkenden Positionslichtern.

Ein gewaltiges Schiff, ein ungeheures Sternenschiff. Ein riesiger Berg aus glänzendem Metall, der sich in den dunklen, sternenklaren Nachthimmel erhob. Sein Schatten fiel auf ihn. Dann war es verschwunden. Nur der Donner blieb zurück, der über den Berg rollte und eine polternde Gerölllawine auslöste. Doch ihm geschah wie durch ein Wunder nichts. Seine Frau Franzis fand ihn später draußen bewusstlos vor der Tür der Berghütte wieder und hatte sofort den Rettungsdienst alarmiert. Wie er allerdings dorthin gekommen war, blieb für Mr. Woodstock ein Rätsel. Wie er überlebt hatte, ebenfalls.

***

Das Geheimnis offenbarte sich viel später zu Hause in seiner Wohnung, als Mr. Woodstock in seiner Regenjacke ein beschriebenes Stück Papier fand, auf dem ein kleiner See eingezeichnet war, den er nur zu gut kannte. Es war sein Bergsee hoch droben in den Bergen. An einer ganz bestimmten Stelle war ein Kreuz eingezeichnet. Dann folgte eine kurze Beschreibung, die dem alten Mann die Sprache verschlug. Er teilte das Geheimnis nur mit seiner Frau, die ihn zuerst für einen Spinner hielt, bis, ja bis sie sich selbst davon überzeugen konnte, dass es noch Wunder gab, die nicht von Menschenhand gemacht worden sind.

***

Mr. Walter Woodstock und seine Frau Franzis legten eine kurze Rast ein, um von dem kalten, reinen Wasser des Eissees zu trinken. Sie lachten, scherzten und manchmal kamen ihnen sogar die Tränen. Sie wagten das Wunder kaum zu glauben, das ihnen widerfahren war. Aber sie mussten es glauben, obwohl es viel zu phantastisch klang. Aber beide konnten es jedes Mal wieder und wieder am eigenen Körper erfahren und ausprobieren. Das fremde Wesen aus dem All hatte für sie ein wunderbares Geschenk im kleinen Bergsee zurückgelassen. Ein Geheimnis, das nur sie beide kannten. Es war eine Art Lebenselixier, das in einem kugelförmigen Behälter lagerte und die gesamten Zellen des menschlichen Körpers innerhalb kürzester Zeit regenerierten, was wiederum zu einer spürbaren Verjüngung und zu einer enormen Verlängerung des Lebens führte. Ja, und dieser Behälter lagerte im kühlen Bergsee unterhalb der Wasseroberfläche in einer kleinen Felsennische. Niemand wusste davon, außer Mr. und Mrs. Woodstock natürlich.

Etwas später stiegen sie den Pfad hinab, neben ihnen floss der Strom des Stanton Rivers unermüdlich talwärts.

Sie gingen vorbei an den Tannen, den Kiefern, den schlanken Espen, hinab in das warme sommerliche Tal, das über und über mit goldenen und bunten Farben besät war und in dem die Vögel lustig zwitscherten.

Manchmal schauten sie zurück zu den hohen, schneebedeckten Bergen, wo früher einmal eine Bergspitze mehr gestanden hatte und einstmals ein Berggeist hauste, der aus den unendlichen Tiefen des Alls gekommen war.

Auch dieses Geheimnis behielten sie für sich.

Die Menschheit musste ja nicht unbedingt von jedem Wunder erfahren, das vom Universum durch Zufall manchen Personen offenbart wurde.

 

 

ENDE

 

© Heinz-Walter Hoetter


 


 


 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.11.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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