Christa Astl

Noch einmal leben

 

 

In der Nacht vor Weihnachten geschehen allerlei seltsame Dinge. Tiere können sprechen, das Christkind fährt mit dem Schlitten vom Himmel herunter, sagte man, und manche Verstorbene dürfen noch einmal auf die Erde zurück.

Frau Renigaldis, schon seit mehr als zehn Jahren in Gottes Wolkenreich, gehörte zu den Auserwählten. Hielt sie sich so gewissenhaft an die himmlische Ordnung, oder war ihr Wunsch so heiß und innig gewesen, dass sogar Petrus Mitleid hatte? Jedenfalls wurde es ihr erlaubt, für eine Nacht die Erde zu besuchen.

Eine besonders Heilige war sie nicht gewesen, hatte das Leben in vollen Zügen genossen, war bei jeder Festlichkeit und Lustbarkeit dabei, spielte in vielen Lebensstücken gerne die Hauptrolle. So wollte sie wenigstens diese Nacht auch verbringen. Freunde besuchen, mit ihnen feiern und fröhlich sein, Endlich dem langweiligen Frohlocken und Hosianna- singen entweichen, für eine Nacht, vielleicht auch für länger, wenn die Freunde sie aufnahmen und nie wieder zurück kehren, sie wollte wieder leben. Zu früh, kam ihr vor, wurde sie von den Freuden der Welt abberufen.

So fand sie sich also mit Einbruch der Dämmerung in ihrer Stadt. Das heißt, noch nicht in der Stadt, sondern in einem Vorort in der Höhe gelegen.

Atemberaubend war der Blick, doch für sie beängstigend: So gleißend hell leuchteten die Lichter der Straßen und Häuser, Geräusche tönten herauf, ihre Stadt war doch in ihrer Erinnerung viel stiller. Sie musste mehr erfahren. Leichtfüßig ging oder eher schwebte sie bergab. Den bekannten Fußweg aus ihrer Lebenszeit konnte sie nicht mehr finden, stattdessen eine breite Straße, auf der ihr gerade ein Bus entgegen kam. Erschrocken flüchtete sie in eine Hauseinfahrt, solch ein riesiges, hell erleuchtetes Ungeheuer! Gesichter schauten heraus, aber die konnten Renigaldis nicht sehen.

Nun führte sie der erste Weg in die früher so beliebte und belebte Altstadt mit ihren bunten kleinen Lokalen, wo sie viele Stunden und Nächte verbracht hatte. Heute war alles dunkel. Ein riesiger Christbaum stand mitten am Platz, darunter grüne Holzbuden mit weihnachtlichem Schmuck und allerlei Souvenirs. Diesen Kitsch gab es also noch! Menschen drängten sich um offene Glühweinstandl, wie zu ihrer Zeit schon. Doch komisch, alle hatten ihr Gesicht bedeckt. Was war geschehen, durfte man sich nicht mehr zu erkennen geben? Der fröhliche Lärm, der sonst die Christkindlmärkte erfüllt hatte, fehlte ihr auch. Hell erleuchtete Schaufenster lockten sie an, gerne hätte sie was gekauft. Rechtzeitig fiel ihr noch ein, dass sie, körperlos, nichts mehr brauchte. Doch hier wohnten auch einige ihrer Freundinnen, die wollte sie nun suchen. Wohnungsschilder, wenn überhaupt vorhanden, wiesen andere Namen auf. Also weitete sie ihre Suche aus, der Name eines ehemaligen sehr innigen Freundes sprang ihr in die Augen, dieses Haus war ihr gut bekannt. Mutig klingelte sie. Ein alter Mann öffnete. War er’s oder war er’s doch nicht? Noch während sie überlegte, schlug die Tür wieder zu. Es stand niemand draußen, brummte er.

Dass der so alt aussah, machte sie nachdenklich. Oder war das sein Vater? Unschlüssig blieb sie stehen. Da begannen von allen Kirchtürmen die Glocken zu läuten. Ach ja, richtig, es war ja Hl. Abend. Jesus, dem sie im Himmel täglich begegnete, kam als kleines Kind in einem Stall zur Welt. Jedes Jahr neu, und war doch ständig im Himmel.

Und sie war jetzt auch einmal wieder auf der Erde. Sie hatte sich die Rückkehr anders vorgestellt. Irgendwas muss ich hier noch erleben, sonst war ja der Ausflug umsonst!, dachte sie und suchte weiter. Überall sah sie die vermummten Menschen, konnte aber nicht verstehen, warum. Da kam von einer Nebenstraße eine Gruppe schreiender Unverhüllter heran. Auf Transparenten las sie die Worte „Covid“ und „Corona“. Corona kannte sie aus ihrem jetzigen Aufenthalt, sie war eine Heilige. Die würde ihr dann eine Erklärung geben, sofern sie sich mit einer gewöhnlichen Verstorbenen abgab. Die Menschen hier konnte sie nicht fragen.

Sie ließ sich im Gedränge mit schieben und landete schließlich am Domplatz. Wie lange war sie vorher zu ihren Lebzeiten nicht mehr in einer Kirche gewesen. Still nahm sie hinter einer Säule Platz um zuzuschauen. Orgelmusik, Lieder, wie bei den Erbauungsstunden im Himmel, nein, die brauchte sie nicht. Schon wollte sie sich abwenden und den Dom verlassen, als eine alte Frau im Rollstuhl herein geschoben wurde. Renigaldis‘ Blick fiel auf den zerzausten Pelzmantel, den die Frau trug, der kam ihr doch bekannt vor, obwohl er damals neu war. Leider hatte auch diese Frau eine Maske vor dem Gesicht. Aber die Augen! Dieser zwar etwas verschwommene, aber immer noch so tiefe, herzliche Blick, den hatte nur Eine! „Marie-Therese“! Laut schallte Renigaldis‘ Stimme durchs Kirchenschiff. Und Marie-Thereses Blick wanderte suchend umher, ein Lächeln trat in ihre Augen. Wo war die Freundin aus Jugend-tagen, mit der sie so viel unternommen hatte, mit der sie über alles reden  konnte? Und dann wurde diese in einer Nacht von einem Auto überfahren…

Renigaldis berührte sie sachte und flüsterte ihr zu: „Kennst du mich denn noch?“ Das Lächeln der alten Frau wurde zuerst stärker, doch dann stahl sich eine Träne aus den Augen und lief die runzeligen Wangen hinab. „Renigaldis, meine Freundin, du fehlst mir so sehr!“ Sie streckte die Arme aus, nahm ihre Maske ab, beugte sich vor – und fiel aus dem Rollstuhl auf den harten Steinboden. Jede Hilfe für ihren Körper kam zu spät, doch Hand in Hand flogen die beiden Seelen gen Himmel.
 

ChA 06.01.2022

 

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