Hans K. Reiter

Phänomen einer Straftat

„Am Donnerstag werden wir wieder eine Welle nach Süden erleben. Freitag ist Brückentag, wie jedes Jahr nach Fronleichnam“, brummte der Bärtige am Fenster.

„Ja, ja, wahrscheinlich schon ab Mittwochmittag“, sagte Tobias beiläufig. „Mich interessiert eigentlich nur, ob’s bei uns ruhig bleibt. Ich fahre an solchen Tagen nirgendwo hin, wenn der ganze Mob unterwegs ist. Alles überfüllt, der Service eher mau, dafür aber teurer als sonst.“

Sie teilten sich das Büro zu dritt. Anette vorne rechts am Fenster, links Tobias und Severin oder der Bärtige, wie sie ihn nannten, hatte seinen Schreibtisch an der rückwärtigen Wand. Der Raum war groß genug und bot Platz für einen runden Tisch in der Mitte, um den sechs Stühle gruppiert waren, dazu etwas abseits ein Flipp schart.

Anette gähnte, hielt sich schnell eine Hand vors Gesicht und meinte: „Nicht zu beneiden, die Kollegen von der Autobahnpolizei.“

Es war ruhig im Raum, bis auf das leise Klappern von Tasten, das vor allem von Annette herrührte.

Der Bärtige ging zurück, setzte sich und klappte sein Laptop auf. „Mal sehen, ob’s was Neues gibt“, war sein brummiger Kommentar. Er brummte immer. Es war kein Ausdruck einer besonderen Gemütslage, sondern einfach nur sein sonorer Bass, der ihn nicht anders rüberkommen ließ.

 

Etwa 15 Kilometer südlich, nicht weit entfernt vom BND Arial, fanden sich in einer um die Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts erbauten Villa am späteren Nachmittag mehrere Personen ein. Formell gekleidet, als würden sie einem offiziellen Anlass beiwohnen, entstiegen sie den vorfahrenden Limousinen. Mit Chauffeur, niemand fuhr selbst. Kurz vor siebzehn Uhr dreißig huschte noch ein verspäteter M-Byte über die Zufahrt, bremste am Eingang kurz ab, entließ einen um die vierzig Jährigen, um sich dann bei den Parkenden einzureihen.


„Wer hat noch Lust auf ein Bier?“, fragte der Bärtige. „Ich für meinen Teil werde mir noch eines bei George vorne an der Ecke genehmigen.“
„Eins geht“, meinte Tobias, „dann muss ich nachhause, bevor meine Frau sauer wird.“
„Für mich passt’s auch“, sagte Annette, „wartet eh niemand. Bin und bleibe eine ungeliebte, verstoßene Zeitgenossin.“
„Wir weinen gleich mit“, brummte der Bärtige, schaltete das Laptop ab und verließ gemäßigten Schrittes das Büro. „Der Letzte sperrt ab!“, rief er noch.

Die Drei: Hauptkommissar Severin Brettschneider, der Bärtige, Kommissar Tobias von der Walden und Hauptkommissarin Annette Bricholet legten die paar Meter in ausgelassener Stimmung zurück.

 

Im Süden der Stadt drängten sich zwölf oder dreizehn Personen im Entree der Villa. Der illustre Kreis passte nicht so recht zu dem prächtigen Jugendstilambiente, obgleich die Herrschaften zu einer privaten Lesung des italienischen Bestsellerautoren Jacomo Brentone geladen waren.

In Deutschland war Jacomo Brentone wenig bekannt. Deutsche Übersetzungen, wie auch in andere Sprachen, waren bisher im Buchhandel nicht zu finden. Der Schriftsteller selbst schien für die Öffentlichkeit eine gewisse Scheu zu empfinden, denn auch bei gewissenhafter Recherche, kannte man ihn ebenso wenig in Italien.

Ausweislich einer Internetrecherche gab es drei oder vier Romane von ihm. Bücher, die auch in gut sortierten Bibliotheken und Buchläden nicht auflagen. Es gab sie an solchen Orten nicht, wie es sie möglicherweise nirgendwo gab. Sie waren fiktiv, nur Titel für Kataloge und Verzeichnisse. Würde trotzdem jemand danach verlangen, wären sie derzeit vergriffen.

Und doch war Jacomo Brentone eine reale Person um die Vierzig, elegant, geschmeidig in seinen Bewegungen, ein Mann mit Stil. Er griff nach einer Nachspeisengabel am Buffet und schlug damit leicht gegen sein Champagnerglas.

Augenblicklich erlosch jedes Geräusch und die Männer wandten ihm ihre Gesichter zu.

„Liebe Freunde“, hob Jacomo an, „wie schön, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid und eure mit Arbeit überladenen Tage diesen Spielraum zugelassen haben.“

 

Am Dienstag, zwei Tage bevor katholische Gläubige den Feiertag mit Prozessionen begehen und Kolonnen nach Italien unterwegs sein werden, erreichte das Polizeipräsidium in München die Nachricht eines besorgten Bürgers.

Auf Umwegen und spät, zu spät, war sie dort eingetroffen.


Titus Petronius war wie jeden Tag mit seinem Dackel spazieren. Er wohnte in der Isarvorstadt und drehte seine Runden über den Viktualien Markt, schlenderte durch die Altstadt, um dann je nach Lust und Laune durchs Lehel zu streifen oder direkt wieder nachhause zu gehen.

Regelmäßig passierte Petronius dabei zwei Juweliergeschäfte mit herabgelassenen Gittern vor Eingang und Fenster. Sie würden erst später gegen 10:00 Uhr öffnen.

Die beiden Geschäfte lagen etwa 150 Meter voneinander entfernt in derselben Straße. Heute jedoch war das gewohnte Bild gestört. Petronius schüttelte den Kopf. Vor jedem der Läden parkte ein schwarzer VAN, dunkel getönte Scheiben, kein Fahrer auszumachen, italienische Kennzeichen. Merkwürdig! Was wollen die hier?

Petronius verzögerte seinen Schritt, ließ den Dackel da und dort schnuffeln, konnte jedoch sonst nichts Auffälliges feststellen.

Ein paar Meter weiter nahm er sein Handy und wählte die 110. Sollen die sich den Kopf zerbrechen, murmelte er. Er schilderte seine Beobachtung, erklärte, warum er dachte, es sei von Interesse und spazierte weiter, stoppte noch einmal kurz und schoss zwei Bilder.

Der diensthabende Beamte notierte den Anruf, unternahm jedoch weiter nichts. Zwei italienische Autos, vorschriftsmäßig geparkt. Nichts für die Polizei, dachte er.

 

Um 09:30 wurde der erste Alarm ausgelöst, kurz darauf der zweite. Überfall auf zwei Juweliergeschäfte. In Sekundenschnelle war ein Großaufgebot an Polizei unterwegs.

Der Bärtige, Tobias und Annette rasten in ihren Dienstwagen hinterher. Als sie eintrafen war bereits weiträumig abgesperrt.
„Das gleiche Muster in beiden Geschäften“, stellte der Bärtige fest.
„Die Täter warten, bis die Läden aufgesperrt werden, drängen den oder die jeweiligen Mitarbeiter ins Geschäft, bedrohen diese mit Schusswaffen und nötigen sie zum Aufschließen der Vitrinen und Tresore“, fügte Annette an.
„Alles läuft blitzschnell ab, ohne dass jemand auf der Straße etwas bemerkt. Minuten später nur sind die Täter wieder verschwunden. Mit Fluchtautos, die offensichtlich vor den Geschäften parkten. Die Mitarbeiter lösen den Alarm aus“, sagte Tobias und ergänzt, „das sieht mir nach maßstabsgerechter Planung von Profis aus.“
„Tatsächlich gibt es keinerlei Hinweise von Passanten. Niemandem hat etwas beobachtet, das uns weiterhilft. Merkwürdig, nicht einmal die Fluchtfahrzeuge sind aufgefallen! Ich meine, die müssen buchstäblich mit einer Arschruhe eingestiegen und abgefahren sein“, stellt der Bärtige fest.

Warten wir ab, was die Spurensicherung ergibt“, sagte Annette.

Es war nicht sehr viel. Die Täter hatten Handschuhe getragen. Die Beschreibung der Kleidung war teilweise widersprüchlich, was nicht ungewöhnlich ist. Die Angestellten befanden sich in einem psychischen Ausnahmezustand, was ihre Aufnahmefähigkeit und Konzentration auf Details stark beeinträchtigte.

„Was aber auffällt, ist die Uninformiertheit, mit der sie den Coup ausführten. Gleiche Anzüge, gleiche Schuhe, gleiche Hüte, gleiche Handschuhe und nicht zu vergessen, gleiche Brillen mit gelblich gefärbten Gläsern. In dieser Hinsicht waren sich die Befragten im Wesentlichen einig.“

Der Bärtige gab dem Jüngsten aus der Runde, Tobias, einen freundschaftlichen Klapps auf die Schulter: „Gut zusammengefasst!“

„Und, sie zeigten ihre Gesichter offen! Keine Vermummung!“, fügte Tobias noch an.

„Es genügen die Brillen und Hüte, um ihre Identifizierung zu erschweren“, sagte Annette. Wir haben ja erlebt, wie die Beschreibungen der Mitarbeiter sich widersprechen und teilweise fundamental voneinander abweichen.“

„Auch üblich!“, brummte der Bärtige. Möglich wäre, dass man sie für diesen Job aus dem Ausland rekrutiert und nach getaner Arbeit unmittelbar wieder zurückgebracht hat. Wenn das so ist, haben wir nicht nur sehr geringe Chancen der Täter habhaft zu werden, auch die Beute dürfte kaum zu finden sein. Die lassen einfach Gras über die Sache wachsen. Ich denke ohnehin, dass die Täter klar nur den Raub ausführten. Was mit dem Schmuck geschieht, damit haben diese Leute nichts zu tun. Das ist Sache anderer. Darauf verwette ich meine nächsten Bezüge!“

 

Jacomo Brentone bereitete indessen alles in der Villa vor. Die beiden VANs waren mit neuen Fahrern auf dem Weg zurück nach Italien. Der Schmuck, verstaut in zwei Alu-Koffern, würde in wenigen Minuten mit dem Fahrzeug eines Hausmeisterservice hier eintreffen. Fahrzeug- und Personalwechsel hatten sie in der Tiefgarage eines Hotels in der Nähe der Juweliergeschäfte ausgeführt. Die beteiligten Personen hatten ihren Job erledigt und jeder für sich nach einem festen Plan die Stadt verlassen.

Die Eingangsglocke schlug an und wenig später rollte der Hausmeisterservice auf das Anwesen.

 

Erst ganze 10 Stunden nachdem Titus Petronius die 110 gewählt hatte, erlangte das Polizeipräsidium Kenntnis.

„Verdammt!“, entfuhr es dem Diensthabenden, der die Nachricht aufnahm. Einem Verzeichnis entnahm er den Namen des leitenden Kriminalkommissars und wählte dessen Nummer.

„Es scheint, als wären doch nicht alle blind oder taub!“, rief der Bärtige. „Wir haben einen Zeugen hinsichtlich der Fahrzeuge.“

Eiligst ließen sie Petronius nur Minuten später von einer Streife zuhause abholen.

 

Zwei Männer in blauen Overalls verbrachten die beiden Alukoffer zum Eingang der Villa, übergaben sie an den dort wartenden Mann, machten kehrt, bestiegen ihr Fahrzeug und verließen das Anwesen.

 

Trotz Petronius‘ Fotos kam es zu keinem Fahndungserfolg.
„Hätten wir die Bilder Stunden früher gehabt...!“, meinte Annette. „Vielleicht..., Mist!“

Ermittlungen in Italien hatten ergeben, dass die Kennzeichen tatsächlich existierten und zwar exakt für zwei VANs einer Cateringfirma. Diese standen auf dem Firmenparkplatz und waren nachweislich seit Montag nicht bewegt worden.

„Diese Bande hat gut vorrecherchiert und sich Kopien real existierender Fahrzeuge beschafft. Selbst bei einer Verkehrskontrolle wären sie mit dazu passenden Fahrzeugpapieren durchgekommen. Und ich gehe davon aus, dass sie damit ausgestattet waren“, brummte der Bärtige.

„Diese Nuss werden wir nicht so schnell knacken, vielleicht niemals!“, bemerkte Annette.

 

Jacomo Brentone erteilte indessen Anweisungen. Der Inhalt der Alukoffer, säuberlich verpack in Baumwollsäcke, wurden in den ersten Stock der Villa in einen als Arbeitszimmer eingerichteten Raum verbracht, dort abgestellt und vom Personal nicht mehr weiter beachtet. Ein Bediensteter stellte die Koffer in eine Kammer zu anderen dort gelagerten Gepäckstücken.

Am Abend begab sich Jacomo Brentone nach oben, öffnete die Säcke und begutachtete jedes einzelne Stück, legte sie danach zurück in die Säcke und verstaute diese in einem als Jugendstil Ofen getarnten Tresor. Man hätte darin sogar ein Feuer entzünden können. Wer jedoch sollte solches tun?

Brentone war sichtlich zufrieden, eine Millionenbeute!

Am nächsten Morgen verließ Brentone die Villa und wies den Fahrer an, in gemächlichem Tempo nach Stuttgart zu fahren. Während der Fahrt führte er einige Telefonate. Ein neues Team war zusammenzustellen und die üblichen Vorkehrungen zu treffen. Am Brückentag würde sich wiederholen, was in München so trefflich gelungen war.

Jacomo Brentones Freunde vom Montag würde er in Stuttgart nicht treffen. Was zu besprechen war, war in München erledigt worden. Auf seinen Stab war Verlass. Jeder Teil einer Operation verlangte professionelles Handeln. Und jedes noch so kleine Puzzle war gleich wichtig. In Monaten oder vielleicht sogar erst in Jahren würden sie Profit aus der Beute ziehen. Das war Brentones Teil und er beherrschte sein Metier wie kaum ein Zweiter.

 

Die Kriminalabteilungen im Land rätselten. Innerhalb kurzer Zeit gab es drei solcher Überfälle. Juweliere in München, Stuttgart und Hamburg waren betroffen. Millionen, die von den Versicherungen zu erstatten waren.

Vom Schriftsteller Jacomo Brentone hörte man nichts Neues auf dem Markt, obwohl er mit dem Gedanken spielte, demnächst einen wahren Roman zu veröffentlichen. Stoff hierfür hatte er nunmehr genug gesammelt.

Fenomeno di un atto criminale wurde ein in zahlreiche Sprachen übersetzter Bestseller.

Selbst ausgepuffte Beamte der Polizei sollen zu den Millionen Lesern zählen!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hans K. Reiter).
Der Beitrag wurde von Hans K. Reiter auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.07.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Hans K. Reiter

  Hans K. Reiter als Lieblingsautor markieren

Buch von Hans K. Reiter:

cover

Tilt - Tödliche Affäre eines Konzerns von Hans K. Reiter



Im Januar 2007 und den Folgemonaten berichten die Medien über massive Vorwürfe von Korruption und der Bildung schwarzer Kassen in einem deutschen Konzern. Gierige Manager haben hunderte von Millionen verschoben, aber die Öffentlichkeit scheint mit der Zeit das Interesse zu verlieren, als immer neue Fragmente des Skandals bekannt werden. Kontrollorgane des Konzerns sind in den illegalen Handel verstrickt. Durch Zahlung gewaltiger, millionenschwerer Bußgelder zieht der Konzern den Kopf aus der Schlinge. [...]

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Hans K. Reiter

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Bürgernähe..., eine Lektion! von Hans K. Reiter (Sonstige)
Die Geschichte einer Träne........ von Andrea Renk (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Jeanne? von Klaus-D. Heid (Trauriges / Verzweiflung)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen