Klaus Mattes

Lektüre 08/a: Dürrenmatt: Besuch der alten Dame

 

Dürrenmatt war ein eiskalter Profi. Erst einmal muss man auf so eine Idee kommen! Eine in der Jugend wegen ihrer Armut vom Geliebten Verratene, die 45 Jahre später als super-reiches Monster zurückkommt, um Gerechtigkeit zu üben bzw. sich zu rächen. Eine Gemeinde, die sie mit ihrer Finanzmacht schon in der Vergangenheit heimlich aufgekauft und wirtschaftlich nach und nach lahmlegen lassen hat. Gesetzte Bürger, denen sie eine Milliarde offeriert, wenn ihr vormaliger Geliebter getötet wird. Was nur gerecht sei, habe er sie doch verstoßen, was dazu geführt habe, dass sie Hure geworden und ihr Kind gestorben sei. Eine alt-testamentarische Gerechtigkeit, welche die Idylliker erst mal scharf von sich weisen, auf humanistische Tradition pochend.

Und schon fangen sie an, einen Wirtschaftsaufschwung zu produzieren, sie investieren und konsumieren, als ob doch feststünde, dass diese Claire-Milliarde kommt. Womit sie natürlich auch dafür sorgen, dass das Todesurteil am Ende gesprochen und vollzogen werden muss. Es sind ungeheuerliche finanzielle Schulden aufgelaufen, die nach Opfern verlangen. Man erklärt das zur „Gerechtigkeit“. Dürrenmatt hat was von der Bedeutung sich selbst erfüllender Erwartungen für die Volkswirtschaften des Globus verstanden. Auch des Marshall-Plans für mehr oder weniger ganz Westeuropa, den die USA dezidiert als Instrument ihrer antikommunistischen Strategie eingeführt hatten. Hin und wieder hat man, auch der Autor selber, sich über die bizarren Erklärungen für die Figur Klärli bzw. Claire Zachanassian amüsiert, am Ende solle sie gar noch den Marshall-Plan verkörpern. Aber da ist was dran. Auch der Marshall-Plan wollte die Moral beeinflussen, gerade in kippeligen Gesellschaften wie Italien und Deutschland.

Ein raffinierter Hund, der dicke Herr Dürrenmatt, der vom Grundeinfall aus sich eine Menge möglicher Szenen einfallen lässt, diese dann ohne viel Federlesen hintereinander weg verfeuert. Kaum die Forderung nach Ills Tod mal auf dem Tapet, benehmen sich alle, als ob sie in Ills Laden unbegrenzt anschreiben lassen könnten. Alle tragen dieselben neuen gelben Schuhe. Ein einfaches visuelles Signal für die Bühne. Ills Ehefrau und die Kinder, die sich zwar auch etwas Luxus gönnen, aber immer noch dafür Sorge tragen, Ill vor einer aufdringlichen Pressemeute zu schützen, die zur Hochzeit der Milliardärin (mit einem Eunuchen) angereist ist.

An was ich mich nicht mehr erinnern konnte, waren die gelehrten Literaturverweise und Autoren-Echos. Mehrfach wird auf Ödipus und die griechische Tragödie angespielt. Am Ende tritt ein Bürgerchor auf und bringt eine Parodie auf Schillers „Lied von der Glocke“ zu Gehör. Und es wird in Carl Sternheims Telegrammstil gesprochen und Brechts episches Theater fortgesetzt.

Man sieht ihn grinsen, diesen Emmentaler Fritz, wenn ein (vorübergehender) Gatte der reichen alten Frau vom Balkon deklamiert, die Güllener Idylle öde ihn an. „Alles tiefer, sorgloser Friede, Sattheit, Gemütlichkeit. Keine Größe, keine Tragik. Es fehlt die sittliche Bestimmung einer großen Zeit.“ Unterdessen wird im Land gemütlicher Sattheit dem Ill klar gemacht, dass er sich fürs Heil der Gemeinschaft zu opfern und richten zu lassen habe. Das Wesen der deutschsprachigen Schweizer Literatur schlechthin: die Erstickung durch Sicherheit, die Niederbügelung durch Konformität!

Hin und wieder rutscht Dürrenmatts Humor ins Kindische ab. Ich muss daran erinnern, weil dieser Autor es in anderen Dramen auch so hielt. Da stehen Schauspieler herum und sagen, dass sie gerade den Wald spielen. Wenn einer auf die Tabaksdose klopft, heißt es: „Aha, der Specht.“ In Erwartung kommenden Reichtums haben die Ills sich einen tollen Wagen gekauft. Sie machen einen Ausflug, hocken auf Kisten und ruckeln und erklären sich die Aussicht, an der sie vorbeifahren.

Bekannt ist, dass jedes Drama die schlimmst denkbare Wendung nehmen muss, sonst sei es keine Komödie. Also gibt es eine Gemeindeversammlung vor den Mikrofonen der Weltpresse; der Chor beschwört patriotische Werte und versichert: „damit unsere Seelen nicht Schaden erleiden!“ Ill, dem es ans Leder geht, schreit: „Mein Gott!“ Aber genau da war ein Scheinwerfer ausgefallen und für die Kameras muss die Szene noch einmal nachgespielt werden. Und wird. Ill kriegt seinen Aufschrei nicht mehr hin, der für die Medienmenschen ein „Freudenschrei“ sein soll. So viel zur Authentizität der uns per Medien vermittelten Realität des Seienden.

Blitzgescheit und wendig, wie er ist, leuchtet der Text auf jeder zweiten oder dritten Seite schon wieder neu. Es flirrt vorbei. Fast entgeht uns, dass der Autor seiner eigenen Theatertheorie, in der modernen Welt wäre die individuelle Tragödie nicht mehr möglich, widerspricht. Der Spezereiladenbesitzer Ill bekennt sich zur individuellen Schuld. In der Jugend habe er seine Geliebte Klärli Wäscher im Stich gelassen und in die Prostitution gedrängt, das gemeinsame Kind sei gestorben, Ills Kumpane und Zeugen wurden eingefangen und kastriert, die Ortschaft Güllen ist wirtschaftlich verarmt, letztlich alles seine, Ills Schuld, für die er endlich doch noch büßen wolle.

Ill hätte zwei Chancen. Er könnte die Milliardärin Zachanassian umbringen; sie sitzt traut und allein mit ihm auf einer Bank im Wald. Er könnte zu fliehen versuchen. Einmal läuft er zum Bahnhof, sieht sich von einer Menge Leute umzingelt, die er beschuldigt, sie wollten ihn festhalten, aber nein, sagen sie, geh nur weg! „Ich bin verloren“, schluchzt er und fällt auf die Knie. Vorhang. Da erweist sich Dürrenmatt als Pokerspieler. Natürlich kann man aus der Schweiz fliehen, wenn es auch nur wenige tun. Aber es hätte den Autor um Ills Tod gebracht. Erklären wir es en passant für unmöglich, damit das Spiel ordentlich zum schlimmsten Schluss verlaufen kann!

Viele Literaturfreunde der älteren Richtung, die anderen haben ihn längst vergessen, beteuern, ums Jahr 1950 herum habe Friedrich Dürrenmatt alle Konflikte der technoiden Konsumwirtschaft mit ihren Massenvernichtungswaffen und dem Antagonismus zwischen Kapitalismus und Planwirtschaft vorausgesehen. Er war, sei und bleibe: ewig modern.

Claire Zachanassian erklärt den Herren die Welt. Die Menschlichkeit wird von den Finanzmärkten gemacht. Wer über ungeheure Finanzkraft gebieten kann, ordnet die Welt nach seinen Wünschen. Die Welt war es, die mich zur Hure machte. Als Hure habe ich die Welt zum Bordell gemacht. Wer bei den gestiegenen Preisen nicht mithalten kann, muss seinen Lebenswillen darin zeigen, dass er hinhält. Anständig ist immer der, der genug Geld hat, davon auch noch den anderen zu geben. Die Zachanassian hat. Ihrer sind Moral und Gesetz.

Es war 1955, als er das schrieb. Aber es gilt festzuhalten, dass, obwohl die Stelle millionenfach zitiert worden ist, es die einzige derartige im ganzen Drama ist. Klar, Dürrenmatt hatte was begriffen davon, dass die Gerechtigkeit manchen Leuten gehört und immer nur denen, die an Schaltstellen von Wirtschaft und Politik sitzen. Die Gerechtigkeit war das Lebensthema schlechthin für den Philosophen und Theologensohn. Aber ein Ökonom oder Naturwissenschaftler war er nicht. Außerhalb der Schweizer Wahrnehmung der Wirtschaftswunderzeit lag, dass selbst die cleverste Wirtschaft den Reichtum niemals aus nichts erzeugen kann, sondern dass jeder Durchsatz von Ressourcen letztendlich eine Reduktion der Lebensgrundlagen auslöst, die allen Menschen, die Superreichen mit dabei, am Ende noch bleiben.

Haben wir unsere Schuld schon eingesehen, mag sie auch nicht mehr möglich sein in dieser Welt, wollen wir jetzt mal büßen?


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.08.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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