Ich bin nicht sicher, aber sie sagen, ich soll ihn mir wenigstens ansehen. Also folge ich. Ich will keine Unstimmigkeit. Wegen so einer Lappalie!
Es ist wie vermutet.
Ich mag diese Mode nicht. Und wenn ich etwas nicht mag, warum soll ich es trotzdem ansehen? Weil die anderen es wollen, nicht ich.
So ist es ein Leben lang und es war schon davor so und danach wird es wieder so sein.
Immer die anderen! Die Verwandten, der Kindergarten, die Schule, die Nachbarn, der Verein, der/die...
Niemals ich... Niemals?
Damals als Engelbert gestorben ist, einer meiner zahlreichen Onkel. Früher waren die Familien größer gewesen, mehr Kinder, so, logischerweise, gab es auch mehr Onkel.
Als er endlich, habe ich jemanden sagen hören, gestorben war, kamen sie von überall her. Jetzt, wo er es nicht mehr wahrnahm, ging es um ihn. Alle redeten über ihn, nannten ihn großherzig, obwohl ich ihn immer als ausgesprochen geizig erlebte. Gelegentlich ein wenig Kleingeld fürs Kino. Aber nicht einfach so, nein, dafür musste ich schon etwas tun. Etwas holen oder wegbringen. Die Zigarren aus dem Auto vor der Tür, die volle Windel eines der jüngsten Enkel oder Urenkel in den Müll, nicht im Haus, in die Tonne draußen.
In einer Sekunde nur gewann das Endlich an Bedeutung. Nicht an dem Verstorbenen lag ihnen. Ist klar, dachte ich. Von ihm konnten sie nichts mehr erwarten, von seiner Hinterlassenschaft hingegen schon.
Als der Notar endlich mit mehr als einer halben Stunde Verspätung den Raum betrat, verstummte augenblicklich jedes gesprochene oder auf dem Wege dahin befindliche Wort
In Kürze war alles verteilt. Die einen mit vor Eifer geröteten Wangen, die anderen mit griesgrämigen Gesichtern. Die einen durften auf einen ansehnlichen Teil aus der Erbmasse blicken, die anderen nicht.
Und ganz zum Schluss, ich war längst vor Langweile geistig weggetreten, vernahm ich plötzlich meinen Namen.
Kein Zweifel, ich war gemeint!
Sofort strafften sich die Züge meiner Mutter. Vater gab es keinen mehr. Den hatte der Krieg nicht zurückgegeben. Russland, raunten die anderen, wenn jemals die Sprache darauf kam. Sie kam nicht sehr oft darauf. Stiefvater hatte ich keinen. Es schien, jedenfalls vernahm ich es nicht anders, als wollte meine Mutter für sich bleiben. Allenfalls mit mir, dem einzigen Kind.
„Dieser Katalog“, hob der Notar an, „soll übergehen an meinen geliebten Neffen Eusebius, den Kleinen, der ob des unleidigen Krieges niemals seinen Vater kennen lernte.“
Einer der Angestellten des Notars reichte ein wohl verschürtes Paket, das an mehreren Stellen mit rotem Lack versiegelt war. Inmitten der Lacke glänzten eine Art Wappen.
Behutsam nahm ich das Paket entgegen, als sei es eine Kostbarkeit und sah mit einem Blick, nicht Wappen zierten die Lacke, sondern Sportwagen unterschiedlicher Bauart.
Vielleicht, so dachte ich, hat mir der Onkel die Sammlung seiner unzähligen Bilder von Sportautos vermacht. Als ich noch kleiner als heute war, hatte er sie mir oft gezeigt und dabei alles Mögliche erklärt. Und da fiel es mir ein, als er einmal sagte, „du wirst sie eines Tages bekommen.“
Heute, viele, viele Jahre später, aus dem kleinen Eusebius war ein Mann geworden, umgeben von Familie und Angestellten, die sich um aller Wohl kümmerten.
Also nahm ich den gereichten Katalog zur Hand und blätterte achtlos durch die bunten Seiten. Mode! Mode, die ich nicht mochte, wie ich überhaupt modischen Firlefanz verabscheute. Ich kleidete mich gut aber einfach, ohne Schnörkel. Und ich kaufte in Geschäften, deren Personal oder Inhaber ich leiden konnte. Scharwenzeler waren mir zuwider und ich mied sie, wo es nur ging.
Freilich schuldete ich dem Katalog eine gewisse Aufmerksamkeit. Nicht seines Inhaltes, sondern des Begriffes wegen. Auch damals hatte der Notar von einem Katalog gesprochen...!
Als die Anwesenden sich allmählich verlaufen hatten, nach Hause oder in das nahe gelegene Gasthaus, nahm der Notar mich und meine Mutter beiseite. „Kommen Sie“, sagte er bestimmt, „gehen wir kurz ins Nebenzimmer.“
Hier erfuhren wir nun die ganze Wahrheit. Der Katalog war nicht irgendein Katalog. Er war die Zusammenfassung notariell beglaubigter Abschriften zahlreicher eigentumsrechtlicher Dokumente.
„Die zugehörigen Originale sind in meiner notariellen Obhut. Und ich darf noch hinzufügen, dass Eusebius bis zur Volljährigkeit von mir und unserer Kanzlei nicht nur betreut, sondern treuhänderisch vertreten wird. So hat es der Verstorbene testamentarisch festgelegt. Sollte Eusebius dies wünschen, stehe ich selbstverständlich auch später darüber hinaus zur Verfügung.“
„Du sollst aus dem Katalog nichts bestellen, sondern ihn begutachten im Sinne einer Werbebroschüre. Das Modehaus im Zentrum ist an uns bezüglich einer Teilhaberschaft herangetreten. Das möchten wir mit dir besprechen, Eusebius, nicht mehr.“
„Wir bauen Autos, Sportautos für Individualisten. Unsere Firma befasst sich selbstverständlich mit allem, was unsere Kundschaft im Weitesten zur Bedienung und Befriedigung Ihres Faibles erwarten darf. Aber doch nicht mit herkömmlicher Bekleidung, die im günstigsten Fall noch als Mode des allgemeinen Bedarfs zu bezeichnen wäre.“
„Aber...“
„Nein, kein Aber. Wir machen das nicht, Punkt!“
Seine Familie meinte es stets gut mit ihm und oft schon musste er ihre Begehren und Wünsche schroff abweisen.
In milderem Ton fuhr er deshalb fort: „Seht es so, wir haben als Firma einen Ruf, ein Image. Das ist unser wirkliches Kapital, erarbeitet und gepflegt von den vielen Mitarbeitern im Unternehmen. Ich habe an exzellenten Schulen und Universitäten gelernt und studiert. Das Erbe des Onkels zu bewahren und es zu mehren, ist Ziel und Programm.“
Sie werden es nur schwer verstehen, sinnierte er, dass die alten Zeiten schon lange dem Ende entgegeneilen und Neues entstehen wird. Innovation, Investment und Mut werden die Zukunft bestimmen.
Vielleicht werde ich eines Tages meinen Kindern, Nichten und Neffen Bilder zeigen von Beförderungsvehikel, deren Konstruktionen unser Denken heute noch überfordert, obwohl wir sie morgen bereits bauen.
Vielleicht werde ich ihnen sogar erzählen können, wie es der Schnelllebigkeit zu verdanken ist, dass politische Eifersüchteleien, überbordender Bürokratismus und nationalistische Doktrinen keinen Bestand mehr haben.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.10.2023.
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