Brigitte Waldner

Orakel-Junkies

rauchen nicht, trinken nicht
und nehmen keine Drogen,
sie rufen täglich bei Heilern an
und befragen das Orakel in ganz banalen Fragen.
+
Orakel-Junkies sind Opfer,
die einem spirituellen Medium verfallen sind
und von Astrologen, Kartenlegern und dergleichen abhängig,
die sie fest in ihren Krallen halten
und jedes Mal wieder auffordern,
wieder anzurufen.
+
Auf das Orakel sind sie süchtig,
und bezahlen dafür tüchtig,
für Telefongebühr und Beratung.
Für noch so unwichtige Fragen
rufen sie bei Heilern an,
ob ihre Katze wieder heimkommt,
die seit zwei Stunden entlaufen ist,
wie sie sie daran hindern können,
wieder aus dem Haus zu laufen,
ob sie einen Kunden nehmen sollen,
der ihnen eventuell sogar zusagen würde,
und was kriegen sie als Antwort?
+
Sie sollen nur ein bisschen warten,
dann wird die Katze wieder kommen;
wenn ihnen der Kunde gefällt,
dann können sie ihn nehmen,
aber die Entscheidung liegt bei ihnen,
und wenn ihnen der Kunde dann doch nicht taugt,
dann sollen sie ihn einfach hinauswerfen.

Bei jedem neuen Kunden dieselben Fragen und dieselben Antworten.
+
Was braucht man dafür einen Seher zu rufen?
Das weiß der normale Hausverstand,
und sei er noch so einfach gestrickt,
das bräuchte man nicht zu fragen,
und schon gar nicht für so viel Geld.
+
Auch ich kenne so einen Junkie.
Es ist eine Seniorin über siebzig.
Ich habe sie darauf aufmerksam gemacht,
dass sie schon orakelsüchtig ist,
weil sie bei Seherinnen täglich mehrmals (!) anruft;
aber sie sagt, das sind ihre Freunde.
Diese wohnen 300 km weit
und noch weiter entfernt.
+
Sie müsse ihnen nichts bezahlen,
aber sie bezahlt sie freiwillig mit Lebensmitteln,
die sie am Markt einkauft und an sie am Postweg sendet,
wie Speck und Wurst und andere Spezialitäten.
Und manchmal legt sie einen Geldschein bei.
Sie merkt es nicht, in welchem Sog sie ist.
Obwohl sie eine Seniorin ist,
arbeitet sie immer noch in ihrem Beruf.
um genug Geld zu haben für Orakelbefragungen?
Sie sagt, sie arbeitet gerne und möchte nie aufhören.
Sie hat diese Arbeit seit ihrer Jugend gemacht und möchte nie etwas anderes tun.
Sie wüsste nicht, was tun, es würde ihr die Decke auf den Kopf fallen,
wenn sie nicht mehr arbeiten ginge.
Sie habe einen Pensionsschock erlitten,
als sie pensioniert wurde,
deshalb arbeitet sie freiberuflich weiter, nur etwas weniger,
weil sie nicht so schnell ist, wie Jüngere.
Sie kann mit sich selber nichts anfangen. Sie habe keine Hobbies.
Sie ist nicht kreativ.
Sie ist eine ausgebildete Steuerberaterin.
Die langweiligen Zahlen haben ihr mutmaßlich das Gehirn verdreht.
+
Sie sagt, die Heilerinnen, die sie konsultiert,
machen das nicht offiziell,
sondern nur hobbymäßig und für sie privat.
Sie haben also davon gar keine Ahnung,
sie sind keine professionellen Experten,
sie beraten auf freundschaftlicher Basis.
Sie hat sie auch über mich befragt und über meine Tiere
und mir dann ihre Auskünfte mitgeteilt,
was ich nicht beauftragt hatte und es waren belanglose Antworten,
was ich nicht hätte erfahren müssen, was ich also eh weiß.
+
Sie ruft täglich bei zwei verschiedenen Seherinnen an
und manchmal auch bei einem Mann.
Sie sagt, dass sie vieles über sie aus der Vergangenheit richtig gesagt haben,
vermutlich hat sie es ihnen vorher erzählt, ohne dass es ihr bewusst ist.
Sie kommen bei Bedarf zu ihr ins Haus,
besuchen sie öfters im Jahr
und pendeln ihr die Wohnung aus.
Ich habe zu ihr gesagt, das kann ich auch,
ich habe auch davon keine Ahnung
und habe mehrere Pendel aus Edelsteinen.
Ich würde aber kein Geld für Zauberei nehmen.
+
Sie wollte mit mir sofort einen Termin ausmachen.
Ich habe ihr klarzumachen versucht,
dass ich Kristallpendel als schönen Schmuck betrachte
und das Pendeln selbst als Hokuspokus-Humbug.
Ich suchte ihr eine Telefonnummer einer Suchtberatungsstelle,
aber ich habe keine gefunden,
die sind nur für Alkohol, Nikotin und Drogen zuständig.
+
Dann habe ich ihr empfohlen,
sie möge doch selber pendeln.
Sie sagt, sie habe ihr Pendel verloren,
sie hätte ein ganz großes gehabt.
Ich denke, das hat ihr einer weggenommen oder geklaut.
Am Ende meinte sie, sie könne nicht pendeln,
das Pendel sagt mal dies, mal das
und mal das Gegenteil.
Aber sie meint, die Seherinnen und Seher könnten das richtig.
+
So ist es eben, wer dreimal pendelt,
erhält drei verschiedene Antworten.
Mal positiv, mal negativ, mal unentschieden.
Bei Sehern ist das nicht anders,
aber man sieht nur einen Ausschnitt.
Sie pendeln nur einmal, wenn überhaupt.
Man sieht es ja nicht am Telefon.
Was soll man davon halten?
+
Die Seniorin sagt, die Seherinnen helfen ihr,
die richtige Entscheidung zu treffen,
damit sie keine Fehlentscheidung trifft
und sie habe durch diese Orakelbefragungen
noch keine größere Fehlentscheidung getroffen.
Ich sagte ihr, sie dreht ja nicht am Rad der Welt,
wie hohe Politiker oder Industrielle, dass sie Berater braucht.
Sie habe ja keine große Verantwortung zu tragen.
+
Sie meint, bisher keine größeren Fehlentscheidungen getroffen zu haben.
Sooft sie bei Seherinnen anruft, trifft sie eine Fehlentscheidung.
Das habe ich gesagt. Sie sieht es anders.
Sie ist süchtig, Orakel-Junkie.
Sie sagt, es sei noch nicht so schlimm bei ihr.

© Brigitte Waldner

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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