Horst Radmacher

Memory

Die späten Jahre des Ehepaars Sonja und Gero Callsen verliefen ausgesprochen harmonisch. Für ihr Alter, beide knapp über achtzig, waren sie gut in Schuss, von einigen kleineren Beschwerden abgesehen. Ihr Leben verlief in geordneten Bahnen, die Kinder und Enkel standen präsent und gut versorgt im Leben, man sah sie leider nur zu selten. Und jetzt auf der Zielgeraden ihres Lebens wurde es auch sonst ruhiger um sie herum; ihre Aktivitäten wurden geringer, auch die Todesfälle im Freundes- und Bekanntenkreis nahmen zu. Dennoch, sie klagten nicht über ihr Leben. Allerdings nahm die Häufigkeit der Rückblicke zu. Und es waren meistens die angenehmen, an die sich bevorzugt erinnerten. Hier waren es die noch sehr klaren Bilder vom Heranwachsen der Kinder. Besonders die Erinnerungen an den jüngsten Enkel bereiteten Sonja und Gero großes Vergnügen. Nun, da sich bei ihnen bisweilen altersbedingte Gedächtnisdefizite bemerkbar machten, wurde eine spezielle frühere Situation mit dem Enkel zum 'Running Gag', der sie heute noch amüsiert. Der Kleine forderte sie damals oft zu einem Memory-Spiel auf, das stets mit dem gleichen Scherz begann: 'Oma, Opa, ich hol schon mal die zwei Karten.' Natürlich sind Kinder älteren Erwachsenen in solchen Spielen meistens überlegen, und im heutigen Zustand hätten Sonja und Gero bei Memory nicht den Hauch einer Chance gegen ihn gehabt.

Inzwischen traten bei beiden Callsens bisweilen Gedächtnislücken auf, bei Gero stärker als bei seiner Frau, allerdings trugen sie dies mit Humor, denn ihre Lebensqualität wurde dadurch kaum gemindert. An der verbreiteten Überthematisierung der Demenz beteiligten sie sich erst gar nicht, sie betrachteten eine solche Entwicklung fatalistisch. In ihrem bisherigen Leben hatte keiner von ihnen jemals regelmäßig Tagebuch geführt. Nun aber begannen sie damit. Sie notierten akribisch Beispiele ihrer Vergesslichkeit und konnten sich kurze Zeit später köstlich über diese Anekdoten amüsieren; es handelte sich um eher harmlose Geschehnisse, nichts Besorgniserregendes, und in ihrem Umfeld gab es jüngere Bekannte mit gravierenderen Auffälligkeiten. So konnten die zwei fröhlichen Alten bald auf ein Sammelsurium kurioser Gedächtnislücken zurückgreifen. Gero scherzte häufig darüber. Wenn doch auf das Langzeitgedächtnis am längsten zurückzugreifen sei, so könne man doch einfach Aktuelles aufnehmen, und warten, bis es ins Langzeitgedächtnis übergegangen wäre, und es dann eben mit Verspätung abrufen. Diesen Vorschlag ihres Mannes fand Sonja aber dann doch zu bizarr, sie blieben bei ihrer täglich aktualisierten Kladde. So kamen sie in diesem Lebensabschnitt bestens voran. Sonja, als frühere Musik- und Werklehrerin, konnte sich gut mit kreativen Dingen beschäftigen, Zuhause oder bei Freundinnen. Gero zog es mehr nach draußen. Er war im früheren Berufsleben in seiner Eigenschaft als Architekt an vielen Bauvorhaben in der Region beteiligt gewesen. Davon gab es eine beträchtliche Anzahl: Hotels, Einkaufszentren, Bahnhöfe, Kliniken etc. Diese suchte er in sporadisch auftretenden Nostalgieanwandlungen auf, um sie in ihrem 'lebenden' Zustand zu bewundern; daran konnte er sich stundenlang begeistern. Das letzte große Projekt, das er fast bis zur Fertigstellung mit betreut hatte, war die Uniklinik in der nahen Großstadt. Zu dieser fuhr Gero eines Tages. Dort war er jetzt allein von den gewaltigen Ausmaßen und der Betriebsamkeit auf dem Gelände des Klinikums schwer beeindruckt; er als Architekt konnte hier eine monumentale Funktionalität bewundern. Gero hatte den Komplex sofort als Blaupause vor Augen, als er den Eingangsbereich betrat. Gigantisch, was er hier sah, ein Teil davon nach seinen Ideen gestaltet, stellte er mit Stolz fest. Jetzt, im fertigen Zustand, glich das geschäftige Treiben dem eines großen Hotels. Er, der visuell geprägte Mensch, hatte keine Schwierigkeit, sich hier im Haus zurechtzufinden; der Bauplan war in seinen Vorstellungen immer noch sehr präsent. Und so begab er sich auf Erkundungstour. Gero empfand sich nicht als störend, wie er so durch die Gänge der verschiedenen Bereiche schlenderte. Ein freundlich grüßender älterer Herr wurde hier absolut nicht als fehl am Platz empfunden; dafür war der Betrieb in Fluren und Gängen auch zu lebhaft. Sein besonderes Interesse galt den Untergeschossen. Er konnte es gut erinnern, dass es hier im Bereich einiger Versorgungsräume Konstruktionsprobleme gegeben hatte, sodass diese erst nachträglich voll funktionstüchtig werden konnten; das geschah dann nach seiner aktiven Zeit.

Also spazierte der ehemalige Bauplaner bald durch Räume und Gänge, die er vom Plan her nicht mehr kannte. Er durchstreifte eine ganze Weile die Unter- und Kellergeschosse des riesigen Krankenhauskomplexes. Dann schwächelte Gero und bemerkte, dass er sich verirrt hatte – das ausgerechnet ihm, hier in seinem Klinikum. Auf dem Weg in diesen Irrgarten hatte er sich beim Wechseln der Flure und Räume keine markanten Punkte zu Orientierung gemerkt. Er wurde unruhig, Panik stieg in ihm auf. Ermüdet setzte er sich orientierungslos in eine Ecke. Dass es hier unten keinen Handyempfang für einen Kontakt nach draußen gab, verunsicherte ihn so stark, dass er resignierte und lethargisch in seiner Position verharrte – stundenlang.

Am nächsten Morgen fanden Betriebshandwerker einen alten, verwirrten Mann in einem Kellerraum im hintersten Bereich des Untergeschosses. Er war nicht ansprechbar, konnte aber anhand seiner Personalpapiere identifiziert werden. Die Untersuchung in der Patientenaufnahme des Uni-Klinikums ergab, dass der alte Mann außer einem Flüssigkeitsmangel keine körperlichen Defizite aufwies. Der offenkundige Verwirrtheitszustand sollte sich aber nicht wieder legen. Ehefrau Sonja war geschockt. Es gab keine andere Option, als eine Einweisung ihres Mannes in ein Pflegeheim für an Demenz erkrankte Menschen. Geros dementer Zustand blieb bis auf seltene, kurze Klarmomente manifestiert. Hin und wieder wurde er kurzeitig emotional rege, meist dann, wenn sein jüngster Enkel ihn besuchte. Dann kam es vor, dass sich die Andeutung eines kindlichen Lächelns auf Geros sonst so leere Gesichtszüge legte, wenn er den Enkel mit, „Hol schon mal die zwei Karten“, begrüßte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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