Claudia Bauer

Der Abwesende

Er hatte es wieder getan. Er hatte seine Familie im Stich gelassen, um mit seinen Freunden zu feiern. Er hatte ihnen versprochen, dass er heute Abend zu Hause sein würde, um mit ihnen zu essen und den Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Aber er hatte gelogen. Achim hatte sein Handy ausgeschaltet und war in eine Bar gegangen, wo er sich betrank und lachte, als ob er keine Sorgen hätte.

 

"Komm schon, trink noch einen mit uns!", rief sein bester Freund und schlug ihm auf die Schulter, "Du hast es dir verdient, nach all dem Stress auf der Arbeit."

 

"Ja, ja, du hast recht", stimmte Achim zu und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas, "Ich muss mich mal entspannen. Meine Frau und meine Kinder verstehen das nicht. Sie wollen immer nur, dass ich bei ihnen bin. Sie wissen nicht, wie hart es ist, für sie zu sorgen."

 

"Das ist doch Quatsch", widersprach sein Freund, "Du bist ein toller Vater und ein toller Ehemann. Du machst alles für deine Familie. Du solltest dir keine Vorwürfe machen. Du solltest Spaß haben. Das Leben ist zu kurz, um es zu verschwenden."

 

Achim nickte und lächelte schwach. Er wollte glauben, was sein Freund sagte. Er wollte glauben, dass er nichts falsch machte. Er wollte glauben, dass er glücklich war.

 

Seine Frau saß am Küchentisch und starrte auf das kalte Essen, das sie für ihn gekocht hatte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie liebte ihn immer noch, aber sie fühlte sich so einsam und verletzt. Sie hatte versucht, mit ihm zu reden, ihm zu sagen, wie sehr sie ihn brauchte, wie sehr die Kinder ihn vermissten. Aber Achim hörte ihr nie zu. Er sagte immer, dass er hart arbeitete, um ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen, dass er sich nur ab und zu entspannen wollte. Er sagte, dass er sie liebte, aber er zeigte es nie.

 

"Warum tust du mir das an?", fragte sie ihn oft, wenn er nach Hause kam, "Warum bist du nie da, wenn wir dich brauchen? Warum lügst du uns an? Warum liebst du uns nicht?"

 

"Das ist nicht wahr", antwortete Achim dann immer, "Ich liebe euch über alles. Ich tue das alles für euch. Ich will nur, dass ihr glücklich seid. Bitte versteht mich."

 

Sie wollte ihm glauben, aber sie konnte es nicht. Sie sagte nichts. Sie weinte nur.

 

Achims Kinder lagen in ihren Betten und weinten leise. Sie wussten nicht, warum ihr Vater sie nicht sehen wollte. Sie dachten, dass sie etwas falsch gemacht hatten, dass er sie nicht mochte. Sie sehnten sich nach seiner Umarmung, seinem Lächeln, seinem Lob. Sie wollten ihm von ihren Träumen, ihren Ängsten, ihren Erfolgen erzählen. Aber er war nie da. Er war immer beschäftigt, immer müde, immer weg.

 

"Papa, wo bist du?", fragten sie ihn oft, wenn sie ihn anriefen, "Wann kommst du nach Hause? Wann spielst du mit uns? Wann liest du uns eine Geschichte vor?"

 

"Es tut mir leid", sagte Achim dann immer, "Ich bin gerade sehr beschäftigt. Ich komme bald nach Hause, dann spiele ich mit euch und lese eine Geschichte vor. Bitte wartet auf mich. Bitte seid nicht böse auf mich."

 

Sie wollten ihm glauben, aber sie konnten es nicht. Sie sagten nichts. Sie schliefen ein.

 

Achim kam spät in der Nacht nach Hause, als alle schon schliefen. Er schlich sich ins Schlafzimmer und legte sich neben seine Frau. Er roch nach Alkohol und Zigaretten. Er küsste sie auf die Wange und flüsterte: "Ich liebe dich." Sie wachte auf und sah ihn an. Sie wollte ihm glauben, aber sie konnte es nicht. Sie sagte nichts. Sie drehte sich um und schlief wieder ein.

 

Achim wusste, dass er ein schlechter Vater war, ein schlechter Ehemann. Er wusste, dass er seine Familie vernachlässigte, dass er sie enttäuschte. Er wusste, dass er sich ändern musste, dass er ihnen mehr Zeit und Aufmerksamkeit schenken musste. Aber er wusste nicht, wie. Er war gefangen in einem Teufelskreis aus Schuld und Flucht. Er hatte Angst, sich seinen Problemen zu stellen, sich seinen Gefühlen zu stellen. Er hatte Angst, zu versagen, zu verlieren, zu brechen.

 

"Was mache ich nur?", fragte Achim sich oft, wenn er allein war, "Wie kann ich das wieder gut machen? Wie kann ich ihnen zeigen, dass ich sie liebe, und mich dabei selbst nicht verlieren und glücklich sein?"

 

Doch Achim fand keine Antwort. Er fand keinen Ausweg. Er fand keine Hoffnung.

 

Er hatte es wieder getan. Und er würde es wieder tun.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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