Francois Loeb

DAS LETZE BLATT

Direkt blättern zum letzten Blatt in meiner neuesten Wochengeschichte aus meiner Feder. Viel Spass dabei:

DAS LETZTE BLATT

Das Extrablatt, das heute früh an alle Haushalte verteilt wurde, habe ich in meine abgewetzte Ledermappe gesteckt, die täglich mit meiner Mittagsverpflegung auf die Arbeit mitkommt. Einer vermaledeiten Beschäftigung, die ich einzig des Gelderwerbs wegen ausübe. Langweilig. Eintönig. Ohne Insekten. Fliegen. Mücken. Denn der Raum, in dem ich meinem einsamen Job nachgehe, ist steril abgeschirmt. Absolut keimfrei ausgestaltet. Durch eine Schleuse habe ich diesen zu betreten. Werde dabei mit speziell entwickelten Desinfektionsmitteln der Superklasse besprüht. Nicht dass ich bemitleidet werden will oder dabei gar nass werde. Nein, eine Lichtquelle der Ultraviolettklasse übernimmt diese Aufgabe. Dazu habe ich eine quelllichtabweisende Brille aufzusetzen, die mich nicht weiter stört. An meinem Laborplatz angekommen, löse ich meine Schichtvorgängerin nahtlos ab. Übernehme deren Logbuch, indem ich minutiös in Hundertstelsekundenschritten mittels eines Strichs die Mutation der Gegenwart zur Vergangenheit zu protokollieren habe. Mein Arbeitgeber, die Zeitmutationsbehörde, verlangt absolute Präzision, denn wo käme unser Globus hin, falls Abweichungen entstünden, Gegenwart sich nicht in den Ruhestand verabschieden, endlich die verdiente Tätigkeitslosigkeit geniessen kann. Sie verstehen bestimmt, wie schwer die Verantwortung auf mir lastet. Zähle die Sekunden, also nach jeden hundert Zeiteinheiten führe ich gewissenhaft einen Strich ins Logbuch, das Gegenwart von Vergangenheit sorgfältig trennt. Vergangenheit dabei von ferner Zukunft träumt. Denn im Traum, auch in meinem eigenen während der Arbeit, das haben sie bestimmt bereits auch selbst bereits erfahren dürfen, verläuft Zeit, auch die Hundertstelsekunde, chaotisch, hält sich an keine noch so akribisch ausgestaltete Regel wie diese, die ich als Grenzbeamter zwischen Gegenwart und Vergangenheit einzuhalten, strikt zu beachten habe.

Glücklicherweise habe auch ich eine Mittagspause zur Erholung meines so bedeutenden Zählvorgangs. Packe mein einfaches Mittagsmahl, bestehend aus einem bereits in der Vergangenheit lebenden, am frühen Morgen durch meinen Gemahl hergestellten Käsebrots und einem leuchtend roten Apfel, der sich nach Vergangenheit, als er noch am Baum hing, sehnt. Nach Vergangenheit, die damals Gegenwart war.

Eine meiner Gaben, wohl diejenige, weshalb ich für diese Arbeit ausgewählt wurde, ist es, mich gedanklich in jede aus lebenden Zellen bestehende Kreatur versetzen zu können. Also auch in diesen sich so sehnenden Apfel, der mir die volle Schuld an seinem Gegenwartszustand fern des vergangenen Baumtraums zuweist. Ich erkenne, wie er damals, als die Striche im Logbuch noch bedeutend schlanker ausfielen, im Herbststurm den fallenden Blättern zulächelte, das wild tanzende Blattballett bewunderte, ohne sich seinen eigenen Fall noch im Geringsten vorstellen zu können.

Doch auch die Mittagspause vergeht im Nu. Ich kann nicht dem Leiden nachspüren, das anderen widerfährt, denn dann ist keine Erholung von meiner Strich-Tätigkeit möglich. Greife also in meine Ledermappe. Entnehme ihr das Extrablatt. Beginne zu lesen. Gross betitelt wird zum Generalstreik aufgerufen. Insbesondere auch zu demjenigen der Zeitbehörde, in der ich tätig bin. Endlich soll die Grenze von Gegenwart und Vergangenheit durch das Einstellen der Zählung der Hundertstelsekunden unterbrochen werden. Denn dann, so das Extrablatt, bliebe alles gegenwärtig, die Vergangenheit würde eingestellt. Abgebrochen. Ins Nirwana verbannt. Altern wäre dann ein Fremdwort. Doch weit darüber hinaus würden neue Entwicklungen endlich zu Endwicklungen, niemand hätte sich mit Neuheiten zu befassen. Der Geist frei, müsste sich nicht der Zeit und deren Vergänglichkeit widmen.

Doch so wundervoll die Versprechungen des Aufrufs sich anhören, ich würde meinen langweiligen, eintönigen Job verlieren, den ich in der Vergangenheit so liebgewonnen habe. Nicht darauf verzichten will. Grenzbeamter mit sozialer Sicherheit zu sein, insbesondere darauf zu achten, dass Gegenwart zur Vergangenheit mutiert ist heute doppelt wichtig, entgegne ich in Gedanken dem Extrablatt.

Werde zum Streikbrecher aus Überzeugung und eile in meinen abgeschotteten Raum, die Mittagsschicht erlösend zum Logbuch zurück, nachdem ich dem roten Apfel seinen Traum, ihn genüsslich verspeisend, endgültig ausgetrieben habe …

Und als Bonus ein weiterer DREISATZROMAN aus meiner Feder:

B L Ä T T E R N

Mit Vorsicht im
Eigenleben Blättern
Dabei ausgeblendet
Stellen mutig erklettern.

Weisen mit dem Zeigefinger
Nicht auf den Andern
Vielmehr auf das
Eigen Selbst.

Wenn auch knurrend
Schatten leise kehrend
Um Verzeihen alsdann bitten
Mit den frisch erknospend Lippen.  

Herzlichst
François Loeb

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.01.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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