Heinz-Walter Hoetter

Das Erbe

 

 

 

Mein Nachbar hieß Rudolf Brinkmann und wohnte auf seine alten Tage ganz alleine in einem schönen Haus, das auf einem kleinen Hügel stand und vorne und hinten einen großen Garten hatte, der aber mittlerweile total verwildert war.

 

Herr Brinkmann war schon sehr lange alleinstehend und schwer gehbehindert. Oft stand er mit seinem Rollator einsam in der geöffneten Haustür vor seiner Terrasse und guckte sehnsüchtig runter auf die belebte Straße, die direkt an seinem Haus weiter unten vorbei führte.

 

Leider konnte er mit seinem Rollator nicht runter bis an die Straße fahren, weil der steile Gartenweg aus mehreren Stufen bestand, die verhinderten, dass der alte Herr mit seinem Gehwagen gefahrlos da runter rollen konnte.

 

Also blieb Herr Brinkmann immer in der Tür stehen und guckt sich alles von dort oben an, wie die Autos auf der Straße vorbeifuhren, wie die Menschen, mal alleine, mal zu zweit oder zu mehreren über den Bürgersteig gingen.

 

Unten an der Straße befand sich eine Bushaltestelle, wo mein Bus hielt, der mich zur Schule und auch wieder zurück nach Hause brachte. Wenn ich dann von der Schule zurück kam und den Bus verließ, stand der alte Herr Brinkmann schon immer in der Tür und rief mir zu, ich solle bloß auf die Autos aufpassen, damit ich nicht überfahren werde.

 

Ich antwortete ihm dann stets mit lauter Stimme, dass ich schon alt genug bin, um gut auf mich selbst aufpassen zu können. Trotzdem schüttelt er jedesmal mit dem Kopf, als sei ich zu leichtsinnig und würde ihn nicht verstehen, was er mir zurief.

 

Irgendwann hörte ich einfach damit auf, ihm zu antworten, dass ich schon selber auf mich aufpassen könne, um die Straße sicher zu überqueren, sondern winkte ihm nur noch freundlich lächelnd zu. Aber der Alte hörte nicht damit auf, mir seinen gut gemeinten Rat fast jeden Tag aufs Neue zuzurufen. So ging das jahrelang fast jeden Tag weiter.

 

Der Weg zu unserem Haus führte auch an seinem vorbei.

 

Eines Tages stand der alte Herr Brinkmann plötzlich mit seinem Rollator auf der anderen Seite seines Hauses unter dem rustikalen Vordach seiner Eingangstür und bat mich darum, ob ich vielleicht dazu bereit wäre, mal seinen Rasen zu mähen, der leider schon viel zu hoch sei. Er würde die Arbeit auch gut bezahlen, wie er anmerkte.

 

Ich willigte spontan zu, da ich ja mittlerweile auch schon fast achtzehn Jahre alt war und mir ein wenig Taschengeld nebenbei dazu verdienen wollte.

 

Am Wochenende mähte ich also seinen ziemlich großen Rasen rund um sein Haus und Herr Brinkmann gab mir auch nach der Arbeit eine schöne Summe Geld dafür, was ich eigentlich in dieser Höhe so nicht erwartet hätte von ihm. Dann überreichte er mir noch zum Abschied eine Tüte Gummibärchen, die er nicht mehr bräuchte, wie er meinte. Ich nahm sie an mich und bedankte mich brav für alles.

 

Allerdings fand ich es mehr als sonderbar, dass er mich die ganze Zeit, während meiner Anwesenheit in seinem Haus, mehrmals danach fragte, ob ich ein guter Junge sei, in der Schule gut lerne und auch zu Hause der Mutter im Haushalt helfen würde.

 

Alles okay, Herr Brinkmann. Natürlich helfe ich meiner Mutter bei der Arbeit, wenn sie mich ruft. Das ist doch selbstverständlich, dass man seinen Eltern hilft. Ich bin außerdem ihr einziger Sohn und möchte meinen Vater und meine Mutter nicht enttäuschen“, antwortete ich und verabschiedete mich schließlich von ihm endgültig.

 

Als ich zur Tür hinaus ging, drehte ich mich noch einmal zu dem alten Mann herum und winkte ihm lächelnd zu. Er nickte mit dem Kopf und sah mich aus glänzenden Augen an, als würde er weinen. Dann machte er seine Tür langsam zu. Ich war über sein seltsames Verhalten ein wenig irritiert, dachte aber nicht weiter darüber nach.

 

Am nächsten Tag, es war ein Montag, kam ich wie immer am späten Nachmittag von der Schule mit dem Bus zurück nach Hause. Diesmal stand der alte Herr Brinkmann nicht wie immer in seiner offenen Tür, die seltsamerweise verschlossen war. Fast alle Rolläden der Fenster waren herunter gelassen worden.

 

Zuhause angekommen, erwartete mich meine Mutter schon mit Tränen in den Augen und offenbarte mir, dass unser Nachbar, der alte Herr Brinkmann, am Vormittag einen Herzinfarkt erlitten hätte und gegen Mittag im Krankenhaus dann verstorben sei, wie ihr eine gute Bekannte mitgeteilt hat.

 

Ich war sehr traurig über diese schlimme Nachricht, auch deshalb, weil ich wohl der letzte Mensch gewesen bin, den der alte Herr Brinkmann noch am Wochenende vor seinem plötzlichen Tod gesehen hat.

 

Meine Eltern und ich waren natürlich dabei, als Herr Brinkmann auf dem nah gelegenen Friedhof beerdigt wurde, aber es waren weit und breit keine Angehörigen zu sehen. Es war nur der Pfarrer anwesend und ein paar Leute aus der Nachbarschaft, die wir alle gut kannten.

 

Aber so ist das Leben nun einmal. Man wird schnell vergessen, wenn man einmal nicht mehr ist.

 

Doch dann kam alles anders.

 

Etwa drei Wochen später erhielten meine Eltern einen Brief von einem Nachlassverwalter aus unserer Stadt, dessen Inhalt wir zuerst nicht glauben wollten.

 

Darin wurde uns notariell erklärt, dass ich das gesamte Anwesen unseres Nachbarn, Herrn Anton Brinkmann, nebst sonstigem Vermögen, als Alleinerbe von ihm übertragen bekommen habe. Es wären auch keine weiteren Angehörige vorhanden, die erbberichtigt seien, stand in dem Schreiben des Nachlassverwalters zu lesen. Da ich mittlerweile schon bald neunzehn Jahre alt werde und damit volljährig sei, müsste ich noch vor einem Notar in seinem Besein durch eigenhändige Unterschrift das Erbe anerkennen, um es antreten zu können, was ich später, zusammen mit meinen Eltern, die mich begleiteten, dann auch tat.

 

Seit der Zeit sind schon viele Jahre vergangen. Ich wohne heute selbst in dem Haus des alten Herrn Brinkmann, das ich von grundauf habe renovieren lassen. Es ist heute ein wirklich schönes Anwesen mit einem gepflegten Rasen, den ich immer selbst mähe.

 

Ich besuche den verstorbenen Herrn Brinkmann natürliches jedes Jahr auf dem Friedhof, wenn sein Todestag wiederkehrt und lege immer ein paar Gummibärchen auf sein Grab. Dann erinnere ich mich auch an jene Tüte Gummibärchen, die er mir noch kurz vor seinem Tod geschenkt hat.

 

 

ENDE

 

(c)Heinz-Walter Hoetter

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.02.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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