Angie Pfeiffer

Zauberwald

Sie liebt den verzauberten Wald, doch sie fürchte ihn zugleich. Er ist gefährlich. Wilde Jäger durchstreifen ihn, wollen ihr das Leben nehmen. In jeder dieser besonderen Nächte flüchtet sie vor ihnen. Bisher ist sie immer entkommen. Wird es heute wieder so sein?
Atemlos, mit jagendem Puls hält sie inne, versucht ihren Atem zu beruhigen, horcht angestrengt. Hört ihre dröhnenden Stimmen. Noch sind sie weit entfernt, lassen sich Zeit, gehen in breiter Reihe durch den Wald, geben sich keine Mühe, um leise zu sein. Warum auch, sie scheuchen das Wild auf, töten es dann mit kalter Präzision. Zweige knacken unter ihren Stiefeln, sie kommen näher. Blinder Panik überrollt die junge Frau. Vorwärts, immer weiter durch die undurchdringliche Dunkelheit eilt sie.

Als sie mit brennenden Lungen inne hält, sich in ohnmächtiger Verzweiflung vornüberbeugt, um Luft ringt, erkennt sie ihn vor sich, den Ort der vermeintlichen Sicherheit. Noch nie wagten die Jäger sich bis hier her. Hoffnung durchströmt sie, so wie jedes Mal. Sie hastet über die brüchigen Marmorstufen hinab.
Vorsicht, es ist glatt. Sie strauchelt, fängt sich im letzten Moment, läuft weiter, tastend mit kältetauben, nackten Füßen und ausgestreckten Armen. Die Düsternis hat zugenommen, legt sich wie ein Schleier über sie. Sie weiß wenn sie fällt, so stürzt sie in undurchdringliches Schwarz, in ein feuchtes, kaltes Grab, in immerwährende Stille.
Doch sie will leben, verweigert den Todesgedanken. ‚Gibt es sie? Die Gewöhnung an den Tod?’, fragt sie sich.

Endlich erreicht sie den Boden. Auch hier Marmorplatten, brüchig vom Alter. Das Blut rauscht in ihren Ohren. Das, und ihr pochender Herzschlag, sonst hört sie nichts ...
Doch sie sieht. Sieht den matt schimmernden Marmor, aus denen die Statuen bestehen. So schön, ehrfurchtgebietend und so kalt. Sie strahlen von innen heraus, doch leer ist ihr Blick. Eingesperrt sind sie, für immer dazu verdammt in ihrem steinernen Gefängnis zu verweilen. Etwas zwingt die junge Frau stehen zu bleiben, die unendliche Reihe versteinerten Lebens anzuschauen. So jung und doch uralt, so stark und zart zugleich.
Eine Stimme umschmeichelt sie: Hier wäre sie für immer sicher, für immer schön. Ein verlockender Gedanke. Doch würde sie zu kaltem Stein erstarren, das weiß sie genau. Die Stimme verstummt, ein Wimmern erfüllt die Luft. Eine leise Klage, die einer fremdartigen Musik gleicht. Ihr Körper schmerzt vor Mitleid, in den Augen brennen ungeweinte Tränen. Sie fühlt, dass jedes der Wesen sich nach Leben sehnt, nach Wärme, nach pulsierendem Blut unter der Haut, nach fühlen und Gefühlen. Doch sie kann die zu Steingewordenen nicht erlösen. Die Musik wird lauter, zieht sie an wie ein Magnet. Immer näher kommt sie den kalten, unerbittlich schönen Statuen. Mühsam macht sie einen Schritt zurück, atmet tief ein und aus, schöpft Kraft aus der Luft, die ihre Lungen füllt.
Atmen, noch ein Schritt rückwärts, sie dreht sich um, schleppt sich weg von diesem Ort, an dem es keine Grenzen gibt, an dem die Zeit unendlich ist. Die uralte Musik begleitet sie, vergeht schließlich mit einem letzten, trauervollen Akkord.

Irgendwann fühlt sie Krumen unter ihren Füßen, riecht nicht mehr den Todeshauch des Marmors, sondern duftende Erde. Mit der Morgendämmerung lichtet sich der Wald. Erschöpft taumelt sie vorwärts, schreitet durch die hölzerne Pforte, steht auf der taufeuchten Wiese. Blüten öffnen sich, Insekten schwirren, Schmetterlinge schweben an ihr vorbei. Auch die Vögel begrüßen zwitschernd den neuen Tag. Sie fühlt sich befreit, hat keine Angst mehr. Hier her kommen weder die tötenden Jäger, noch die versteinerten, nach Leben gierenden Wesen. Hier ist sie sicher.

Jedenfalls bis zum nächsten Neumond, wenn sie die unbestimmte, unstillbare Sehnsucht wieder in den verzauberten Wald treibt.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.02.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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