Ingrid Grote

Der Himmel über Rom, Teil 26 - WAHRHEITEN


„Wie geht es dir, mein Freund?“ Natürlich hatte die Caenis sofort erkannt, dass Marcus noch unglücklicher aussah als je zuvor. Aber nun musste er doch allmählich neuen Mut schöpfen, nun, da alles überstanden war...
„Sie will mich nicht“, sagte der Marcus in ihre Gedanken hinein. Es klang verzweifelt.
„Hast du ihr denn einen Antrag gemacht?“
„Dazu bin ich gar nicht gekommen. Sie verabscheut mich und daran wird sich auch nichts ändern!“
Die Caenis trat an ihn heran und klopfte ihm liebevoll auf die Schulter. „Nein, lieber Marcus! Wer könnte dich verabscheuen? Vanadis weiß nur nichts über dich, und sie weiß vor allem nicht, warum du bei dieser Frau geblieben bist. Es kam ihr bestimmt vor“, sie runzelte ihre Stirn, „als wäre dein Verhalten ein perverser Brauch Roms.“
Marcus biss sich auf die Lippen, er überlegte eine Weile und sagte dann: „Sie hasst mich, das ist das einzige, was ich weiß!“
„Marcus, lieber Marcus, du kennst die Frauen nicht. Immer wenn sie sagen ‚Ich hasse dich’, dann meinen sie das Gegenteil. Ich kenne mich damit aus, auch ich habe mich gewehrt gegen meine Liebe zu dem Titus Flavius, aber ...“ die Caenis schwieg und schaute versonnen vor sich hin.
„Aber was?“, fragte Marcus schließlich ungeduldig.
„Irgendwann habe ich erkannt, dass alles Wehren nichts nützt und dass er mein Schicksal ist.“ Die Caenis lächelte, und dieses Lächeln kam Marcus etwas beschämt vor, so dass er schnell nachhakte: „Und wann hast                                                         1du das erkannt?“
„Ich habe vor ein paar Jahren einen berühmten Wahrsager befragt“, gab die Caenis schließlich zu. „Und der hat mir geweissagt, dass der, den ich liebe, einmal Kaiser sein wird. Und ich werde seine Frau sein.“
„Was denn, der Titus Flavius wird einmal Kaiser werden? Das wäre wunderbar. Er ist der beste Mann für dieses Amt. Er war ja mein Vorgesetzter als Kommandant der zweiten Legion in Britannien.“
„Schon als ich ihn zum ersten Mal sah, da wusste ich, dass ich ihn liebe. Er war zwar verheiratet und seiner Frau treu, aber das hatte keinen Einfluss auf meine Gefühle.“
Marcus starrte durch die Caenis hindurch und grübelte vor sich hin.
„Nicht seine Stellung ist mir wichtig, nur er allein, ich will ihm helfen.“ Die Caenis schwieg eine Weile, bevor sie weitersprach: „Es wird auf das Konkubinat hinauslaufen, das gilt nicht so viel wie eine Ehe unter richtigen Bürgern Roms. Doch es ist mir egal. Wir werden Mann und Frau sein.“
„Da ist Vanadis wohl etwas anspruchsvoller“, Marcus grinste bitter. „Nein, das stimmt so nicht, sie würde eher den niedrigsten Sklaven heiraten als mich. Das hat sie gesagt.“ Und schon übermannte ihn wieder sein Elend. Eigentlich hatte er ihr alles erzählen wollen. Warum er so geworden war und warum jeder glaubte, dass er die Sidonia heiß und innig geliebt hatte und möglicherweise immer noch liebte. Aber er konnte es nicht. Ihr Blick hatte ihn so verächtlich gemustert, dass ihm das Wort im Halse steckenblieb.
„Ach lieber Marcus, das wird schon“, die Caenis streichelte kurz seinen Arm.
„Nein, das wird nicht!“, sagte er hart, er wandte sich von ihr ab und starrte auf die bemalte Wand, ohne zu erkennen, was für ein Motiv darauf abgebildet war. Dann fasste er sich und fragte: „Und wie geht es dem Thumelicus?“ Sein Tonfall hörte sich geringschätzig an.
„Er wird mit euch reisen. Ich weiß zwar nicht, ob er seine üble Vergangenheit jemals vergessen, geschweige denn bewältigen kann, aber er muss weg von Rom. Rom ist Gift für ihn!“
„Zum Jupiter! Rom ist für alle Gift! Für Vanadis ist es Gift und für meinen Sohn auch. Und natürlich auch für den guten Thumelicus. Wie schön, dass wenigstens meine Tochter kein Gift für ihn ist!“, Marcus’ Stimme klang nun sarkastisch. „Wieso zum Pluto verlieben sich die Frauen immer in ihn? Was stellt er für die dar?“
„Lieber Marcus, ich weiß, du meinst jetzt die Vanadis. Aber was hatte sie schon für eine Wahl? Sie war eine Sklavin wie ich selber – und ich weiß, wie man sich als Sklavin fühlt. Du hast mich auf dem Sklavenmarkt gebeten, sie zu kaufen. Ich habe deinen Blick gesehen. Und in diesem Moment hast du angefangen wieder zu leben. Auf eine schmerzliche Weise. Denn sie als die Gefährtin des Thumelicus zu sehen, wäre nicht leicht gewesen für dich ...“ die Caenis lächelte nmitfühlend. „Aber es ist anders gekommen. Vanadis liebt ihn nicht und hat ihn nie geliebt. Wahrscheinlich liebt sie einen anderen, doch das ist ihr nicht bewusst. Noch nicht ...“
„Dummes Zeug! Alles!“ Marcus schüttelte unwillig seinen Kopf. „Gut, ich werde den Thumelicus an Bord nehmen, auch wenn ich den Kerl nicht mag. Ich hoffe nur, dass meine Tochter sich von ihm fernhält, denn er ist nicht gut für Frauen.“
„Ach Marcus, deine Tochter ist zwar noch ein Kind, aber ein sehr kluges Kind. Sie weiß mehr als wir alle zusammen. Sie ist die Vertraute des Thumelicus, seine Seelenfreundin und etwas anderes wird sie nie sein. Also sei beruhigt, mein Freund.“
„Dein Wort in Jupiters Ohr ...“ Bei diesem Worten schaute Marcus die Caenis skeptisch an und wechselte das Thema. „Du wirst dich gut um die Sklaven kümmern, nicht wahr?“
„Aber natürlich“, Caenis nickte ihm beruhigend zu. „Ich werde mich auch gut um das Haus kümmern, obwohl du es nie mochtest.“
„Wichtiger ist mir der Landsitz in Capua, auch den wirst du gut verwalten. Seltsam, seitdem mein Vater tot ist, mag ich nicht mehr dort hinfahren.“
„Das ist doch verständlich, lieber Marcus“, Caenis lächelte ihn mitfühlend an. „Ein Lebensabschnitt ist für dich zu Ende gegangen und ein neuer beginnt. Einer abseits von Rom.“
„Ohne Vanadis und ohne meinen Sohn ...“
„Es kann alles noch gut gehen. Wann läuft dein Schiff aus?“
„In drei Tagen zur fünften Stunde. Der Hafenmeister weiß, wo es liegt. Aber nun muss ich gehen, es ist noch viel zu tun.“ Nach kurzem Zögern fügte Marcus hinzu: „Ob wir uns jemals wiedersehen werden? Du wirst ja Kaiserin sein in einem gewissen Sinne.“
„Eine Schattenkaiserin, lieber Marcus, aber wir werden uns wiedersehen, vielleicht nicht hier in Rom, aber ich besuche euch in Britannien, ganz sicher!“
Sie umarmten sich schweigend und die Caenis schaute ihm mitleidig hinterher. Es war nicht seine Behinderung, die ihr leid tat, damit kam er gut zurecht. Es war sein seelischer Zustand. Sie hatte ja selber Zweifel, ob die stolze Vanadis sich je zu ihrer Liebe bekennen würde.
Vielleicht aber konnte sie ein bisschen nachhelfen. Sie überlegte nicht lange, sondern machte sich auf den Weg. Wie gut, dass sie ihn wusste. Sie hatte nicht lange gebraucht, um Vanadis’ Aufenthaltsort zu finden. Doch ein Eingreifen von ihrer Seite war nicht nötig gewesen: Vanadis kam gut ohne sie zurecht.

-*-*-*-*-*-*-
Jemand klopfte an den Holzverschlag, der ihr Zimmer gegen die anderen abgrenzen sollte. Natürlich war dieser Verschlag kein Schutz gegen ungebetene Besucher, Vanadis hatte schon ein paar Mal den Hammer, der neben ihrer Matratze lag, ergriffen und dann erst die Tür aufgemacht.
Seltsam: Hier in dieser angeblich so gefährlichen Gegend, die vor Zuhältern, Dieben und sonstigen Strolchen nur so strotzte, war ihr nie etwas Schlimmes geschehen, während ihr im ehrenwerten Haus des Marcus jemand übel wollte, und sie konnte sich auch denken, wer es gewesen war. Die Sidonia ... Der Moment, als man ihr einen Sack über den Kopf stülpte  und sie dann an diesen entsetzlichen Ort brachte. Sie hatte sich schon aufgegeben, doch dann kam jemand, um sie zu retten. Nie hatte sie diesen Augenblick vergessen, nie ihre Erleichterung, nie ihre Freude, wieder frei zu sein und sei es auch nur die Freiheit einer Sklavin. In einem perversen Winkel ihres dummen Kopfes hatte sie gehofft, es wäre Markus gewesen. Und wie sich später herausstellte, war es wirklich Marcus gewesen. Einerseits mochte sie das nicht, andererseits ... sie wusste es nicht, fühlte sich im Innersten zerrissen.
Wieder klopfte jemand an die Tür, diesmal ein wenig fester. Vorsichtig öffnete sie den dünnen Verschlag – und erblickte die Caenis.
Vor Schreck trat sie einen Schritt zurück, doch dann fasste sie sich und sagte: „Wie schön, dass meine Herrin mir einen Besuch abstattet!“ Mit einer vornehmen Geste bat sie die Caenis in das Zimmer hinein: „Willkommen in meiner bescheidenen Behausung, ich weiß natürlich, dass sie nicht deinen Geschmack trifft und entschuldige mich vorsorglich dafür.“
„Was erzählst du da für einen Mist!“ Die Caenis trat in das Zimmer ein und blickte sich um. Nicht abschätzend, wie Vanadis befürchtet hatte, nein, sie schaute sich nur um - und ihr Blick blieb auf dem kleinen Marcus haften.
„Was für ein wundervolles Kind“, rief sie und stürmte auf den Kleinen zu. Sie nahm ihn hoch und bestaunte ihn: „Du bist ja ein süßer Kerl, ich hab nie etwas Schöneres als dich gesehen, mein Kleiner!“
Der kleine Marcus schien begeistert von ihrer Rede zu sein, denn er fing an zu jauchzen und genoss es offenkundig, von der Caenis bewundert zu werden.
„Das ist wohl das einzige, welches ich dir voraus habe, liebe Caenis.“ Vanadis taten die Worte schon leid, als sie ihren Mund verließen. Wie konnte sie so etwas sagen? „Tut mir leid, tut mir so leid, ich wollte das nicht sagen“, stammelte sie.
„Es ist schon in Ordnung, ich weiß, dass ich kinderlos bleibe. Bitte Vanadis, beruhige dich.“ Caenis legte den kleinen Marcus wieder auf die Matratze und wandte sich nun Vanadis zu.
„Was ist los mit dir, meine Liebe? Warum versteckst du dich hier? Warum willst du nichts mit dem Marcus zu tun haben? Warum wusste er nichts von seinem Sohn?“
Vanadis starrte sie an und schwieg.
„Ich will nur wissen, warum du das tust, denn ich denke, da gibt es einiges zu klären in dieser Angelegenheit.“
„Weil ich ihn nicht mag, weil ich ihn verachte!“, brach es nun aus Vanadis heraus. „Weil er ein verkommener Römer ist, der seine Schlampenfrau geliebt und geehrt hat! So etwas kann ich nicht achten, geschweige denn lieben!“
„Du täuschst dich, mein Kind“, sagte die Caenis gelassen. „Ich werde dir nun die Wahrheit über den Marcus berichten.“
„Das wird eine schöne Wahrheit sein“, grummelte Vanadis vor sich hin.
Die Caenis achtete nicht auf ihre Worte, sie ließ sich auf die Matratze nieder, winkte Vanadis zu sich und zwischen ihnen krabbelte der kleine Marcus herum, von beiden liebkost.
„Du glaubst also, Marcus ist ein Schlappschwanz, einer, der sich seiner Frau und deren Trieben untergeordnet hat?“
Vanadis zögerte, doch dann sagte sie unsicher: „Ja, das glaube ich.“
„Du weißt vielleicht, dass die äußeren Dinge manchmal täuschen?“
„Natürlich weiß ich das, aber das mit ihm“, Vanadis schaute die Caenis trotzig an, „das war mir einfach zuviel der angeblichen Täuschungen. Das kann nur die Wahrheit sein!“
„Ach Vanadis ... Ich werde dir jetzt seine Geschichte erzählen. Er war nämlich nicht immer so, so verbittert, so undurchschaubar - und so unglücklich.“
Vanadis schaute sie gespannt an. Was würde ihr hier offenbart werden? Sie hatte ihre Entscheidung doch schon getroffen und nichts daran würde etwas ändern können.
„Ich kenne den Marcus aus Capua, dort hatte sein Vater einen Landsitz, und der Claudius auch. Sie waren Nachbarn. Claudius versteckte sich dort, so gut es ging vor dem Tiberius, seinem Onkel – und danach vor seinem Neffen, dem Caligula.“
„Und?“, fragte Vanadis, die nicht wusste, worauf die Caenis hinauswollte.
„Claudius war für Marcus wie ein Onkel, aber dieser Onkel konnte ihm auch nicht helfen, als es nötig war. Er hatte zu diesem Zeitpunkt selber Probleme mit seinem Neffen Caligula.“
Es hörte sich für Vanadis nicht tröstlich an, dass Marcus und der jetzige Kaiser so vertraut miteinander gewesen waren. Es entfernte sie noch weiter von ihm. Sie schüttelte unwillig den Kopf, aber die Caenis ließ sich davon nicht beeindrucken und redete einfach weiter.
„Marcus trat in die Fußstapfen seines Vaters, der zum Ritter erhoben worden war. Als Ritter musste man reich sein. Marcus’ Vater war reich und außerdem als Offizier erfolgreich gewesen.“ Die Caenis seufzte auf und Vanadis fragte sich, was dieses Seufzen zu bedeuten hatte.
„Nachdem er aber aus dem Dienst ausgeschieden war, geriet er in schlechte Gesellschaft, und er verfiel dem Würfelspiel. Zuerst gewann er, doch dann verlor er enorme Summen. Doch er hörte nicht auf zu spielen ...“
„Nicht gut“, flüsterte Vanadis vor sich hin.
Die Caenis hatte sie aber trotzdem gehört: „Nein, es war nicht gut. Die Gläubiger wollten ihr Geld sehen, Marcus’ Vater hatte dadurch schon sein Landhaus in Capua belastet, dennoch reichte es nicht. Sie wollten mehr und drohten, ihn vor dem Kaiser anzuklagen. Caligula brauchte aber selber Geld, und er hätte sich gerne den restlichen Besitz des alten Colonius einverleibt. Aber das wäre nicht das Schlimmste gewesen ...“
„Oh“, Vanadis atmete tief ein. „Was passierte dann? Foltere mich bitte nicht!“
„Marcus, der seit kurzem Stabsoffizier war, hatte große Angst um seinen Vater. Er wusste, dass dieser, wenn er seine Schulden nicht begleichen konnte, in die Arena geschickt würde als Gladiator. Oder er würde als Sklave verkauft werden. Der grausame Caligula hatte nämlich alle Gesetze, durch welche die Schuldsklaverei verboten wurde, wieder aufgehoben.“ Die Caenis tätschelte geistesabwesend den kleinen Marcus. „Es gab also keine Möglichkeit, seinen Vater zu retten. Doch dann auf einmal bekam er eine Mitteilung, es handelte sich um die Botschaft einer der vornehmsten Familien Roms. Und darin stand, dass man geneigt wäre, ihn als Schwiegersohn in diese Familie aufzunehmen, falls er bestimmte Bedingungen erfüllen würde.“
„Was denn? Und welche denn?“, fragte Vanadis.
„Nun, es ging um deren Tochter. Sie war das einzige Kind in dieser Familie. Und sie hatte sich entehrt, war schwanger geworden von einem Unbekannten, dessen Namen sie nicht nennen wollte. Und nun suchte man einen Ehegatten für sie. Einen der dieses Kind anerkennen würde als sein eigenes – und dessen Schande man im Gegenzug durch eine üppige Mitgift tilgen würde.“
Das war wie ein Schock für Vanadis: Die Colonia war nicht sein leibliches Kind? So war das also gewesen. Sie musste den Rest auch noch hören und beugte sich gespannt vor.
„Marcus entschied sich schnell. Sein Vater würde nicht in den Kerker kommen, als Gladiator kämpfen müssen oder gar als Sklave verkauft werden. Nein, er würde auf dem Landsitz in Capua bleiben unter der Aufsicht seines Sohnes. Und so entschied er sich für diese Heirat.“ Die Caenus rümpfte ihre ausdrucksvoll gebogene Nase, während Vanadis auf ihre weiteren Worte wartete.
Diese kamen schnell: „Es wurde ein Ehevertrag aufgesetzt. Darin verpflichtete sich Marcus, seiner Frau ein treuer Gatte zu sein und seine Liebe zu ihr jedermann kundzutun, egal, was seine Frau tat oder trieb. Es war ein schöner Knebelvertrag! Sie hatten alles abgesichert, was die Ehre ihrer hochgeborenen Tochter beeinträchtigen konnte. Auch eine Scheidung war faktisch verboten. Falls diese je eintreten sollte, würde das Dreifache von der Summe fällig werden, welche die Sidonier-Familie ihm als Mitgift überließ und mit der er seinen Vater entschuldete. Das Geld hatte er aber nicht, und außerdem wollte er die Colonia nicht alleine bei ihrer Mutter lassen“, schloss die Caenis, während sie immer noch den kleinen Marcus tätschelte.
Vanadis stöhnte auf, schüttelte dann den Kopf. Das war ... schrecklich, wieder stöhnte sie auf und biss sich auf die Lippen, sie fühlte sich so erbärmlich. Alles wovon sie überzeugt gewesen war, brach gerade zusammen. Wie dumm sie nur gewesen war! Marcus war überhaupt nicht schlecht, und gewiss hatte er seine Frau nicht geliebt, aber deren Kind schon. Oh nein, sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Wie konnte sie ihm jemals zeigen, wie leid ihr das alles tat? Wie krank musste man sein, um so etwas zu glauben! Sie war die Kranke! Wie hatte sie sich nur so irren können ...
„Vanadis, du hast dich zwar geirrt in Bezug auf dem Marcus, aber die Sidonia war wirklich abgrundtief schlecht. Sie versuchte, das Kind abzutreiben, es gelang zwar nicht – doch dabei wurde es am Fuß geschädigt. Und das arme Kind kam behindert zur Welt.“
„Das kann ich nicht glauben“, stammelte Vanadis. „Was für eine fürchterliche Frau! Ich hasse sie auch jetzt noch, wo sie tot ist!!!“
„Da stimme ich dir zu“, die Stimme der Caenis klang bitter. „Doch die Kleine ist stark und sie hat - dem Jupiter sei Dank dafür - nichts von ihrer Mutter geerbt.“ Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach: „Du fragst dich doch bestimmt, warum die Sidonia dich hasste? Oder etwa nicht?“
„Vielleicht hatte es mit dem Thumelicus zu tun“, sagte Vanadis.
„Nein, es ging um den Marcus. Denn von Liebe und ehelichen Pflichten stand nichts in dem Vertrag, also hat er sich ihr verweigert. Marcus verabscheute diese Frau vom ersten Sehen an – und das nahm sie ihm übel. Daraufhin missgönnte sie ihm jeden Blick, den er einer anderen Frau zuwarf. Es waren nicht viele Blicke. Er hatte versucht, sein unglückliches Leben mit einer Maske zu kaschieren, hatte jede Hoffnung aufgegeben. Nein, das ist falsch: er glaubte nicht an Hoffnung, er vermisste sie nicht einmal“, die Caenis machte eine kurze effektvolle Pause und fuhr dann fort: „Bis er DICH sah.“
Vanadis musste schlucken. So schlimm war es gewesen? Am liebsten hätte sie die Caenis aus der Wohnung geschickt, denn sie verspürte den Drang zu weinen. Gerade war ihre Welt erschüttert worden. Sie wollte über Marcus weinen und über das, was er getan hatte aus Liebe zu seinem Vater. Und sie schämte sich so.
Sie schloss ihre Augen, denn sie wollte nicht, dass die Caenis die Tränen sah, die ihre Augen weinen wollten. Es war ihr peinlich, nein, nicht ihre Scham, sondern ihre Dummheit.
„Marcus ist ein außergewöhnlicher Mann, einer der für die Tugenden Roms steht. Diese Tugenden gibt es wirklich noch. Kaum zu glauben ... Er hat sich für seinen Vater aufgeopfert, und das erklärt seinen Charakter. Er hat aufgrund eines Versprechens der Sidonia die Treue gehalten, obwohl er diese Frau verabscheute von Anfang an.“ Die Caenis schaute sie bei diesen Worten fest an und Vanadis konnte nicht anders, als fasziniert auf ihre Lippen zu blicken, denn sie wollte mehr über Marcus hören.
„Wie wird es wohl ablaufen, wenn er dieses Versprechen einer Frau gibt, die er aufrichtig liebt? Wäre diese nicht glücklich zu schätzen?“, sagte die Caenis.
Vanadis fühlte sich vollkommen verwirrt, sie konnte kein Wort herausbringen. In einem letzten Aufbegehren sagte sie: „Aber er hat die Sidonia doch retten wollen. Und das zwei Mal!“
Die Caenis winkte ab.: „Ach was! Beim ersten Mal, ja. Sein verdammtes Pflichtbewusstsein! Aber beim zweiten Mal, nachdem er dich aus dem Tempel des Bacchus befreit hatte - und die Sidonia ihre Tochter zurückgewiesen hatte, da wollte er ihr alles ins Gesicht schreien, für das er sie hasste. Aber leider war sie zu diesem Zeitpunkt schon tot. Und als du zu ihm ins Bett gekrochen bist und er dir nicht widerstehen konnte – denn er liebt dich, verdammt noch mal, er liebt dich über alles. Da packte ihn wieder das schlechte Gewissen ...“
Er liebte sie? So war es gewesen? Und sie selber? Sie hatte immer seltsame Gefühle für Marcus gehegt, hatte gedacht, es wäre Hass und Abscheu. Doch in Wirklichkeit war es ... Wieder stöhnte sie auf. Sie sah, dass die Caenis sich erhoben hatte und den kleinen Marcus kurz an sich drückte. Diesem schien es zu gefallen.
Die Caenis blickte auf sie herab und fragte:. „Was wirst du nun tun?“
Vanadis gelang ein kleines Lächeln. Auch sie stand auf, so dass sie beide auf gleicher Höhe waren. Auge in Auge standen sie da, bis sie ihrer ehemaligen Herrin ein Geständnis machte.
Sie deutete auf das neben dem Bett liegende Bündel und sagte: „Ich hatte mich schon entschieden, da ist nicht viel drin, zwei Kleider für mich und für den Kleinen Windeln. Viel Spielzeug hat er nicht, nur die Rassel und den Stoffbären. Beides schnalle ich mir irgendwie noch um den Leib.“
Die braunen Augen der Caenis veränderten sich. Vorher waren sie schön gewesen, doch jetzt noch mehr, denn sie strahlten innig und mit Freude vermischter Güte.
Die beiden Frauen umarmten sich schweigend.
„Ich lasse euch abholen, in drei Tagen zur dritten Stunde. Ihr werdet an das südliche Stadttor gebracht werden, dort wird eine Kutsche auf euch warten, die euch zum Hafen Portus bringt.“ Die Caenis löste sich als erste aus der Umarmung. „Möget ihr glücklich miteinander werden. Ach dummes Zeug, ich weiß, dass ihr miteinander glücklich werdet!“
„Ich weiß es nicht. Ich habe Angst“, Vanadis blickte nicht sehr glücklich drein, denn sie betrat nun einen vollkommen neuen Weg. Er führte sie ins Unbekannte und vielleicht in eine neue Abhängigkeit, aber sie würde ihn gehen. Für ihren Sohn. Und auch für den Marcus. Sei nicht zu optimistisch, rechne immer mit dem Schlimmsten, ermahnte sie sich. Aber trotz ihrer Skepsis fühlte sie eine wilde Vorfreude auf das, was sie erwartete. Aber auch Angst. Na ja, hauptsächlich Angst.
Sie riss sich zusammen und fragte zusammenhanglos alles, was ihr gerade durch den Kopf ging: „Und was ist mit dir? Was ist mit deinem Geliebten? Werden wir uns je wiedersehen? Stimmt es, dass du mich freigelassen hast? Und wenn, warum?“
„Alles wird gut“, die Caenis nickte  ihr zu. Sie neigte sich zu dem kleinen Marcus hinunter, drückte ihm einen Kuss auf seine Stirn und wandte sich dann zum Gehen.
„Weißt du, dass ich ihm auch das Leben gerettet habe?“, sagte Vanadis, aber es war so leise, dass die Caenis es nicht hören konnte.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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