Charles G. Dannecker

Am Grab

Am Grab

 

Der Weg durch den Wald war kürzer, aber anstrengender als am Einkaufscenter vorbei. Kurvig ging es steil zum Josefs Denkmal. Die Aussicht auf die Häuser im Tal vermittelte einen friedlichen Eindruck. Ja, das ist Heimat, dachte er.

Wie lange war er nicht mehr hier gewesen? Was sich alles verändert hat. Da wo jetzt das Einkaufscenter steht, war eine grüne Wiese. Am Rand viele großgewachsene Walnussbäume. Es gab Haselnusshecken  und Brombeerbüsche. Keiner wollte gerne den Fußball aus den Büschen holen. Auch er hatte sich dabei einmal das Gesicht ganz ordentlich zerkratzt.

 

Die vielen kleinen Gärten mit ihren Minihäusern waren ebenso verschwunden wie der kleine Tante Emma Laden an der Ecke. Er erinnerte sich, dass die alte Frau tatsächlich Emma hieß.

Einmal hatten er und seine Kumpels Zigaretten und eine Flasche Jägermeister geklaut. Diesen Rausch wird er niemals vergessen und bis heute trinkt er keinen Jägermeister mehr und auch das Rauchen ist passee.

Langsam ging er weiter. Das Josefs Denkmal hinter sich lassend in Richtung Friedhof. Seine Schritte wurden langsamer. Den Kopf gebeugt, die Schultern hängend. Die Erinnerung holte ihn ein. 

1966 kamen seine beiden Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Sie wurden auf diesem Friedhof beerdigt. Er konnte nicht dabei sein, denn zu dieser Zeit lag er im Koma im Krankenhaus in Calw. 

Bis heute fehlt ihm das Gefühl  des Abschiednehmens. Es ist eine lebenslange Lücke in seinem Leben entstanden. Ein Teil wird ihm immer fehlen. Wie oft plagten ihn als Kind Albträume. Wie oft lief er in diesen Träumen über einen Friedhof und suchte das Grab. Wie oft wachte er schweißgebadet auf und war am ende seiner Kräfte, wie nach einem Marathonlauf. 

Je näher er dem Friedhof kam umso mehr packte ihn die Angst. Wieder hatte er das Gefühl, das Grab nicht zu finden. Mit zitternden Fingern umfasste er die alte Messingklinke der Friedhofstüre. Ganz langsam und bedächtig ging er auf dem holprigen Weg zum Grab.

Der Weg teilte die Grabreihen. Akribisch angeordnet und Zentimeter genau vermessen, damit auch die letzte Ruhestätte ihre Korrektheit hat.

Angekommen am Grab seiner Eltern fühlte er plötzlich eine unglaubliche Erleichterung. Er las ihre  Namen laut vor. Jedes Wort, ganz langsam, fast wie eine Melodie. So langsam, als ob er verhindern wollte, dass das Lesen jemals aufhört um eine Lebendigkeit zu spüren. 

Tränen füllten seine Augen. Immer und immer wieder las er den Namen seiner Mutter und den seines Vaters laut vor.

Er versuchte Erinnerungsbilder zu erzeugen. Er wollte sich nur noch einmal so fühlen wie damals, als ihn der Vater an die Hand nahm und ihn vor dem großen Nachbarnjungen beschützte und wie ihn die Mutter stolz in den Arm nahm, als er das erste Mal ohne Stützräder fahrradfahren konnte und sie ihm mit dem Taschentuch und ihrer Spucke das Gesicht sauber machte. 

Die Bilder wurden plötzlich lebendig in ihm und er fing vor Freude an zu lachen und ging aufgeregt hin- und her und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. 

Auf einmal stupste  ihn eine alte Frau und sagte: Warum tanzt und lachst du hier?“ „Das ist ein Friedhof und keine Tanzveranstaltung.“ Sie holte ihn damit aus seiner Fantasie und die Bilder verschwanden. Er lies die Frau einfach stehen und ging mit leichten Schritten zum Ausgang. Die fehlende Lücke in seinem Leben hatte sich endlich geschlossen.

 

© Charles G. Dannecker                                                         Griechenland März 2024

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