Steffen Herrmann

Das Wahrheitsministerium

Es sieht danach aus, als würde es bald ein Wahrheitsministerium geben.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Falschinformationen, Fakenews, Hasspropaganda und Bullshit verbreiten sich gleich einer Seuche und drohen, einen immer grösseren Teil unserer Bürger zu infizieren.

Die Bürger, so wird uns nahegelegt, benötigen eine Hilfe, um sich gegen diese dysfunktionale Flut von Desinformation zu wehren und unbehelligt in einem halbwegs bereinigten Informationsraum navigieren zu können.

 

Die Idee eines Wahrheitsministerium, so bestechend sie zunächst erscheint, hat drei grundsätzliche Schwachpunkte: einen politischen, einen gesellschaftlichen und einen konzeptionellen.

In politischer Hinsicht ist festzulegen, wer bestimmt, was Wahrheit ist; in der gesellschaftlichen Perspektive stellt sich die Frage, warum eine solche Institution jetzt notwendig sein soll (und bisher nicht); und konzeptionell gesehen ist der Entscheidungsprozess unter die Lupe zu nehmen, wie das Wahre vom Falschen überhaupt unterschieden werden kann.

Ich werde auf diese drei Aspekte nun kurz eingehen.

 

Ein Wahrheitsministerium ist eine Institution, die Wissen in Macht transformiert. Sie erzeugt ein Wissen, indem sie bestimmte Informationen als falsch klassifiziert und übt Macht aus, indem sie diese dann aus dem Verkehr zieht.

Nehmen wir einmal an, unserer Regierung gelingt ein solches Unterfangen. Eine ganze Menge von feindseligen, provozierenden, irritierenden, frechen und anderweitig unliebsamen Informationen verschwinden aus der Öffentlichkeit, zumindest werden sie seltener.

Ob dieses Klima der Zensur der Debattenkultur gut tut, mag dahingestellt sein. Jedenfalls könnte es sei, dass die Diskurse nun etwas weniger schrill verlaufen, dass wieder etwas mehr Behaglichkeit in die Gesprächskultur einzieht, etwas sedierte Gediegenheit, wohlige Langweiligkeit.

Allerdings ist zu befürchten, dass das Unternehmen nicht besonders erfolgreich zu werden verspricht, wie es häufig der Fall ist, wenn man Symptome wie Ursachen behandelt.

Man kann nicht gut alle Kommentarfunktionen in den Onlinemedien abschalten, man kann auch kaum eine Vorzensur einführen. Es entstehen einfach zu viele Texte, zu viele Dokumente, die Onlinemedien sind zu schnell, zu vielgestaltig, als dass hier ein wie auch immer gearteter Wahrheitsfilter effektiv aufgestülpt werden könnte.

Der zentrale politische Aspekt einer solchen offiziellen Klassifikation von Falschinformationen liegt in seiner grundsätzlichen Instrumentierbarkeit. Es spielt ja immer eine Rolle, wer festlegt, was wahr oder unwahr ist und somit die Herrschaft über den Debattenraum erhält.

Nehmen wir einfach einmal an, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft die Unaussprechlichen an die Macht kämen und das schon bestehende Wahrheitsministerium dann mit ihren Leuten besetzen würden. Die öffentlichen Medien würden einen anders gearteten Filter erhalten, die geltende Wahrheit wäre eine andere.

 

Der gesellschaftliche Aspekt ist ebenfalls interessant. Warum sollen wir nun in eine Epoche des betreuten Denkens eintreten? Warum kann den Bürgern, warum kann den stattfindenden Diskursen nicht mehr zugemutet werden, aus eigener Kraft herauszustellen, was stimmt und was nicht? Welche Argumente gut und welche schlecht sind? Warum ist das Selbstbewusstsein der Gesellschaft nun dermassen lädiert, dass der politische Apparat zu Hilfe gerufen werden soll?

Diese Fragen sind zu komplex und reichen zu tief, als dass sie hier beantwortet werden könnten. Es soll hier lediglich skizziert werden, welche grundsätzliche Struktur eine solche Öffentlichkeit hat.

Das dort vorherrschende Bewusstsein ist das ideologische und es steht im Gegensatz zum philosophischen, beziehungsweise – spezifischer – dem dialektischen.

Der Ideologe hat sich von vornherein auf einen Standpunkt festgelegt. Er schliesst aus, dass derjenige, der eine andere Meinung hat, auch Recht haben könnte. Es geht ihm nicht darum, etwas zu lernen und seinen Horizont zu erweitern, sondern er will seinen Sichtweise verbreiten, sie durchsetzen. Er will gewinnen. Der Ideologe ist moralisch und polarisierend. Wer eine Meinung vertritt, die der seinen entgegensteht, hat nicht nur unrecht, sondern er steht auf der falschen Seite. Der Ideologe unterscheidet zwischen Unwissenden, Fehlgeleiteten und Gegnern. Den ersteren begegnet er belehrend (er erklärt ihnen den richtigen Standpunkt), den zweiten pädagogisch oder therapeutisch (er will sie auf den rechten Weg zurückführen), die letzteren aber bekämpft er entschlossen und konsequent. Er wird nie (oder fast nie) zugeben, dass er sich im Unrecht befindet. Wenn er in seiner Argumentation unter Druck gerät, beschimpft er die Quellen des Kontrahenten, bezeichnet sie als unseriös, propagandistisch und somit als ungültig. Hilft auch das nicht, wird ad hominem argumentiert, der Diskussionspartner selbst wird suspekt.

Im Gegensatz dazu weiss der Dialektiker, dass sein gegenwärtiger Standpunkt nur ein vorläufiger ist. Wenn die Wahrheit offen auf der Hand liegt und alle sich einig sind, ist ihm das verdächtig. Er sucht dann den Fehler, die verborgene, nicht zutage getretene Wahrheit. Für ihn ist das Ganze das Wahre und nicht ein partikulärer Standpunkt. Deshalb sucht der Dialektiker den Widerspruch, er versucht, sich von allen Seiten befruchten zu lassen. Dabei prüft er seine Position und schaut, inwiefern sie sich bewährt oder überholt ist und in einer neuen Position aufgehoben werden muss. Im Gegensatz zum Ideologen führt er faire Diskussionen. Er hat sich nicht auf einen Standpunkt festgelegt und sieht seinen Diskussionspartner als jemanden an, der gleichwertig ist und von dem er lernen kann. Für ihn ist es nicht von primärer Bedeutung, eine Debatte zu gewinnen, sondern sich mit ihrer Hilfe weiterzuentwickeln. Für den Dialektiker gibt es keine falschen Standpunkte, sondern nur einseitige. Auch sein eigener ist ihm als einseitig bewusst, denn jede Überwindung einer Einseitigkeit führt notwendigerweise zu einer neuen.  

Der Ruf nach einem Wahrheitsministerium wird dann laut, wenn die Debattenkultur weitgehend ideologisch geworden ist, wenn die Dialektiker das Feld also geräumt haben.

 

Kommen wir nun zum konzeptionellen Aspekt. Was überhaupt kann als Wahrheit gelten? Eine Antwort scheint schnell gegeben zu sein: Wahrheit ist das, worüber in der Wissenschaft Konsens besteht.

Dass das tatsächlich nicht so einfach ist, wird rasch klar. Als der junge Alfred Wegener seine Theorie der Plattentektonik vorstellte, hat die etablierte Wissenschaft ihn ausgelacht.

Das klassische Beispiel eines falschen Konsenses ist das geozentrische Weltbild.

Dreht sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne? Über Jahrhunderte war der wissenschaftliche Konsens, dass die Erde sich im Mittelpunkt befindet.

Kopernikus hat das dann richtiggestellt und ein neues Paradigma eröffnet. Aber hat er denn auch recht, wenn er sagt, dass die Erde sich um die Sonne dreht?

Nein, sagt Newton, sondern beide Himmelskörper bewegen sich um einen gemeinsamen Schwerpunkt. Also hat Newton nun die Wahrheit herausgefunden?

Nein, sagt Einstein, denn so etwas wie einen absoluten Raum, in dem jedes Ding seine Position erhält, gibt es nicht. Der Raum ist relational (er besteht nicht unabhängig von dem, was in ihm ist) und da nur Gott einen absoluten Standpunkt hat, ist es grundsätzlich gleichwertig, welcher Ort als inertial (als das Zentrum) angesehen werden kann.

Die Position der Relativitätstheorie mag physikalisch und philosophisch einwandfrei sein, doch sie ist unbefriedigend. Wir bleiben davon überzeugt, dass die Position von Newton wahrer ist als die des Ptolemäus, eine konsequente Relativität kann nicht der Endpunkt des Denkens sein. Wir können also versuchen, ein Zentrum des Universums zu konstruieren und von diesem dann die Koordinaten eines absoluten Raumes aufzuspannen. Als dieses Zentrum kann der Schwerpunkt des Universums angesehen werden, also der Punkt, in dem alle Massen aufgrund der wirkenden Gravitation sich wieder vereinigen würden.

Allerdings gibt es einen solchen Schwerpunkt gar nicht, weder theoretisch noch real. Das liegt schon daran, dass sich die Gravitation nur mit endlicher Geschwindigkeit entfaltet - bevor ein universaler Schwerpunkt sich bilden könnte, hätte er sich schon wieder aufgelöst. Ausserdem ist der Ereignishorizont von jedem Punkt im Universum aus ein anderer und würde so einen anderen absoluten Schwerpunkt haben – ein Widerspruch in sich.

Die Frage wird also, je länger man über sie nachdenkt, immer rätselhafter und konvergiert schliesslich mit der Frage nach der Wahrheit selbst, die kein Wahrheitsministerium jemals beantworten könnte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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