Andreas Vierk

Der Seemann mit den Luftballons


 

I

Damals war der Sommer so heiß, dass wir aus unserer Stammkneipe, dem „Café Shirokko“, in die nahegelegene Eisdiele flohen und den Wirt in seinem Kellergelass drei Stufen unter der Erde allein ließen. Da wird er hinterm Tresen im Schatten seine Gläser gespühlt und über seine zwielichtigen Nebeneinnahmen nachgedacht haben. Man könnte mir mit Recht vorwerfen, mit der Geschichte, die ich Ihnen zu besten geben will, späte Rache an ihm zu üben, denn er klaute nicht nur nebenberuflich Fahrräder, sondern hatte mir gerade meine große Liebe Liane vor der Nase weggeschnappt und sofort geschwängert. Sie können sich denken, dass ich nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen war. Die Spitze war ja, dass er bisexuell war und sich auch laut dazu bekannte. Der Wirt des Shirokko wusste sehr wohl, dass ich ihn unter der Hand Harald Hundeson nannte. Sie können ihn ruhig auch so nennen, denn ich werde seinen wahren Namen (Erich Schwedt) ebenso verschweigen, wie ich Ihnen meinen auch nicht nennen werde.

 

Damals kamen öfter die typischen indischen Rosenverkäufer in unsere Stammkneipe. Niemand, außer Touristen, kaufte ihnen jemals etwas ab, und wir fragten uns, wie sich diese armen fragilen und etwas zappeligen Kerlchen eigentlich ernährten. Alois, den wir alle Wanni Wiedikimm nannten, war der Meinung, die „Fakire“ hätten schon jahrelang nichts mehr essen brauchen, weil sie eigentlich Untote wären. Nur einer von ihnen war im Shirokko wohlgelitten, denn er verkaufte keine Rosen, sondern schockgefrorene königsblaue Tulpen. Der Wirt kaufte ihm jedesmal eine ab, die dann irgendwo hinter dem Tresen verschwand. Dieser Inder war besonders schmächtig und die beiden schwarzen Iris in seinen Augen schienen beständig wie im Fieber zu rotieren. Dann – ein genaues Datum konnte niemand von uns nennen – blieb er aus und Harald wurde immer trauriger und fahriger. Liane, die schon stattlich etwas vor sich her trug war nur noch hysterisch. Ich begann dann immer schon nach dem Schweizer Armeemesser in meiner Hosentasche zu tasten. In dieser Zeit wichen wir alle lieber in die Eisdiele aus und kamen nur noch sporadisch den Wirt in seinem Auge des Sturms besuchen.

 

Es war an einem der Tage, die die Straßen mit ihrem gleißenden Licht leergefegt hatten, als sich nur der Wirt, mein Kumpel Wanni und ich im Shirokko aufhielten. Es wurde plötzlich dunkel vor der Tür draußen, drei Stufen hinauf. Wir dachten sofort an eine schwere Gewitterwolke, aber schon trat eingezogenen Kopfes der schwarze Seemann in unser Lokal ein. Ob er wirklich ein Seemann war, kann ich nicht sagen. Jedenfalls trug er eine Art zerschlissener Marineuniform und eine Mütze mit weißblauem Band. Er war ein riesiger Afrikaner und sein Lächeln war dermaßen hinreißend, dass uns allen dreien das Herz aussetzte. Dieser Mann zog an vielleicht dreißig Schnüren etwas hinter sich her in den Schankraum und schon hing die ganze Decke voller bunter heliumgefüllter Luftballons. Was der Afrikaner an diesem Tag getan hat, weiß ich nicht mehr. Ich kann Ihnen auch beim besten Willen nicht mehr sagen, was er selber über sich erzählte oder welche Meinungen er vertrat. Ich erinnere mich noch, dass er fließend und vollkommen aktzentfrei deutsch redete – und dass er mit uns das eine oder andere Bierchen wegzischte. Harald kaufte ihm jedesmal, wenn er kam einen Luftballon ab, ging dann durch die Luke hinter dem Tresen in den dunklen feuchten Keller, wo die Fässer lagerten, und kam ohne Luftballon wieder zum Vorschein. Da sag noch einer, dass das Leben nicht voller Mysterien ist.

 

An den Namen des Afrikaners erinnere ich mich genauso wenig. Vieles lief damals wie im Traum ab, aber vielleicht hatten wir ja auch einen kollektiven Sonnenstich oder tranken zuviel. Der schwarze Seemann kann jeden Tag und ab dieser Zeit füllte sich trotz der Sommerhitze unser Kellerlokal wieder mit Leuten, denn der Matrose war der Star, das Maskotchen und das Kuriosum des Café Shirokko. Wanni füllte ihm die Segeltuchtaschen mit Feuerzeugen, wir gaben ihm soviel zu trinken aus, dass er nur noch pro Forma eine Münze springen ließ. Das allerdings ließ er sich nicht nehmen. Er kam jeden Tag herunter, seine Luftballons im Schlepptau, von denen ihm außer Harald aber niemals jemand etwas abkaufte, außer der eine oder andere staunende Tourist vielleicht.

 

Eines Abends war wieder einmal besonders dicke Luft im Shirokko und auch draußen an den Bänken ging das Gespräch ab und an in steifer Brise hoch. Da kam er wieder lächelnd, den Kopf zwischen den Schultern herein und schon quollen seine Luftballons durch die Tür. Er winkte uns nur kurz zu und verschwand im hinteren Teil der Lokalität, offensichtlich weil er dringend Wasser lassen musste. Seine Luftballons machte er nicht einmal an der Tür fest, wie er es sonst tat, sondern zog sie schleifend und drängelnd den Gang hinter sich her. Lange Zeit war dann nichts mehr von ihm zu hören. Erst dachten wir uns auch nichts dabei, aber seine Sitzung schien länger und länger zu dauern. Schließlich wurden wir alle etwas nervös. Der eine oder andere musste ja auch mal dahin, wo selbst der Kaiser zu Fuß hingeht. Harald, der Wirt, tat so, als hätte er doppelt so viele Leute zu bedienen, wie tatsächlich da waren.

 

„Ich mache mir langsam Sorgen“, flüsterte er uns im Lärm der Trinkenden zu. Wir konnten sein liebeskrankes Herz kaum noch beruhigen, also folgten wir ihm nach hinten – Wanni, ich und noch zwei andere. Ratlos blieben wir vor dem Örtchen stehen. Oben quollen die Luftballons heraus wie eine riesige Traumblume aus einem übermannshohen eckigen weißen Blumenkasten mit aufgemaltem Männchen. Alles schwieg und wir müssen lange quälende Minuten so gestanden haben, als der Wirt einen Entschluss traf. Nur ein gut geübter Panzenknacker konnte so gezielt und zärtlich eine Tür öffnen, wie dieser notorische Hobbygauner. Ein scharfer Schlag mit der Handkante ans Schloss und die Türe sprang auf.

 

Wir trafen den Matrosen in kompromittierender Stellung an, denn er saß schwitzend auf dem Deckel, die blauen Tuchhosen an den Knöcheln. Um beide Handgelenke hatte er seine Schnüre gebunden und machte sich an etwas zu schaffen, das wie ein zartrosa Beutel von etwa der Größe eines Schrumpfkopfes aussah. Darüber hing schlaff zur Seite ein winziges Würmchen von derselben Farbe. Die Uhren hörten zu ticken auf und die Zeit stand still.

 

Ein wahnsinniger Gewitterschlag schien das Café in seine Faust zu nehmen und unsanft wieder auf der Straße abzusetzen. Der Seemann hatte seine Hosen schnell wieder hochgezogen, die Luftballons verteilten sich an lose baumelnden Schnüren über den Gang. Mir fehlt wirklich ein Stück aus dem Zeitablauf, wie in einem Traum. Denn im nächsten Moment hatte der Afrikaner alle Schnüre wieder gefangen und zog sie an der einen Hand hinter sich her durch den Gang. In der anderen Hand hing zappelnd der Wirt. Wir liefen hinter den beiden her in den Schankraum, der brechend voller Personen war, denn draußen zuckten die Blitze und schüttete es, dass auf der Treppe die Blasen sprangen. Aber schon bildete sich zur Tür eine Gasse. Alle Gesichter waren bleich vor Schreck, als dieser zornige Kriegsgott hindurchstürmte, in einer Faust den winzigen, sich krümmenden Wirt, in der anderen an tausend Schnüren luminiszierende Kugelblitze mit lachenden Babygesichtern.

 

Draußen standen wir in den Pfützen um unseren wütenden Matrosen. Es hatte nur einige Sekunden oder vielleicht Minuten geregnet. Schwarze Wolkenfetzen verloren sich wieder in überstirnter Weite und nur das Band an der Mütze des Schwarzen schien ein Eigenleben zu führen. Er hatte mit einigen Schnüren die Hände des schreienden Wirtes im Rücken gefesselt, an alle Gliedmaßen und auch um den Hals hatte er zahlreiche Heliumballons gebunden. Wir hörten den Wirt in der Dunkelheit schreien, klagen und fluchen. Der Seemann hatte alle Luftballons losgelassen und der Wirt wurde wie in einer Windhose nach oben geschleudert. Wir standen alle betroffen und schweigend vor dem Schauspiel des immer kleiner werdenden schreienden Wesens, das sich schließlich zwischen den Sternen verlor.

 

 

II

 

Sensationeller vorgeschichtlicher Fund findet im Museum neue Heimat

 

Daimosphobia, 20.08.7013 – Das in den Dünen aufgefundene merkwürdige Fossil „Astro“. Hat kürzlich im Museum seine endgültige Bleibe gefunden.

 

Wie unser Korrespondent berichtete, fanden vor circa fünf Jahren zwei spielende Kinder in den Salpeterdünen am Stadtrand von Medusia ein etwa mannsgroßes und nach Art der Vormenschenfunde gestaltetes Wesen. Dieses war halb in den Dünen vergraben und hätte für eine Statue gehalten werden können, was zunächst auch nach dem Grad der Versteinerung zu schließen war. Die Hände des Wesens waren über dem Rücken verschränkt, über dem eine Art Schildkrötenpanzer lag. Das Merkwürdigste an dem Fund war die Sehne, die es in den Händen zu halten schien, an deren anderem Ende eine Art gefüllter Membran hing, mit der es – man weiß nicht, wie lange zuvor – dort gelandet zu sein schien. Nach anderen fachlich gestützten Meinungen, scheint diese Membran eher ein Atmungsorgan darzustellen. Ein Gesicht war über der korrodierten Stelle des Kopfes nicht mehr zu erkennen. Da die Kinder das Wesen aus dem Salpeter gegraben hatten, in dem es halb verborgen gelegen, bzw. gestanden hatte, kann nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden, wie das Fossil an den Fundort kam.

 

Nun hat sich die hiesige Museumsbehörde des Fundes angenommen, welcher bislang von verschiedenen Fachleuten untersucht worden ist. Viele Bürger werden sich noch der lebhaften Diskussion entsinnen, die entbrannte, nachdem man zeitweilig überlegt hatte, die Membran an der Sehne abzuschneiden und getrennt zu untersuchen. Nun hat der „Astronaut“ (wie ihn die Kinder nannten, und unter welchem Namen er der Bevölkerung seither bekannt ist) seine endgültige Bleibe in einem Glaskasten in der achten Sektion des Museums für Vor- und Frühgeschichte von Daimosphobia gefunden. Der Glaskasten ist für die „Flugmembran“ eigens oben offen gelassen worden. Am Montag in acht Tagen wird der Fund für die Öffentlichkeit zu besichtigen sein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.08.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Andreas Vierk schreibt seit seinem zehnten Lebensjahr Prosa und Lyrik. Er verfasste die meisten der Gedichte des „Septemberstrands“ in den Jahren 2013 und 2014.

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