Ines Wertenbroch

An einem Ende der Leitung

Ich konnte mich nicht entschließen, das Fenster zu öffnen. Durch das Glas drang Musik aus einem Auto, das direkt vor meiner Wohnung stand. Der Sohn vom Vermieter werkte schon seit über einer Stunde am linken Hinterrad seines Wagens. Es war halb fünf. Er hielt sich an die Ruhezeiten. Ich durfte mich nicht beschweren.
Ich öffnete das Fenster nun doch. Die Luft in meinem Wohnzimmer kam mir drückend vor. Ich schaltete Musik ein. Sie vermischte sich mit der Musik aus dem Auto. Ich stellte meine Anlage lauter. Wenn das so weiter ging, würde ich mit der Nacharbeitung des Sitzungsprotokolls von diesem Tag nicht mehr fertig. Ich verstand die Tatsache, dass der Vermietersohn sein Auto morgen brauchte, doch die drückende Luft in dem Zimmer und die hereindringende Musik ließen meinen Magen verkrampfen. Muss ich alles verstehen? Er kann nicht so tun, als wäre der Gehweg sein Eigentum und die Wohnungen um ihn herum leerstehend. Aber er durfte vor meiner Wohnung Radio hören.
Ich wollte jetzt keine Musik hören. Selbst in meinem Wohnzimmer würde ich im Normalfall keine anstellen, vor allem nicht so laut. Ich schloss mein Fenster wieder. Die Holzrahmen klappten abgedämpft aufeinander. Das war noch nicht demonstrativ genug. Mein Telefon klingelte. Hoffentlich hörte man es draußen. Er ist nicht allein in dieser Gegend.
Ich hob den Hörer ab und meldete mich. Es war Anton. Er brummte immer kurz und sagte meist nur „Hey“. Wenn ich dann nichts sagen würde, wäre im ersten Moment immer eine Stille. Um das zu vermeiden, sagte ich jedes Mal: „Wie geht’s?“
Wenn ich nichts sagen würde, würde er es merken. Es war von Anfang an meine Aufgabe, das Gespräch am Telefon aufrecht zu erhalten. Wir wollten uns lieber sehen. Schon seit über einer Woche hielten wir uns mit kurzen Anrufen über Wasser. Schon seit über Woche taten wir so, als wäre es möglich, uns schon am nächsten Tag zu sehen. Ich war mit jedem Tag zwar immer weniger enttäuscht, wenn es nicht klappte, doch eine allgemeine Schwere und Resignation legte sich über mich. Manchmal weinte ich. Ich wollte nicht, dass wir uns entfernten. Ich vermisste das Gefühl, bei ihm zu Hause zu sein, wenn ich nur am Telefon mit ihm sprach.
Es war schön, dass er an mich dachte und sich bei mir meldete. Ich freute mich, zu wissen, dass es ihm gut ging und was er an den Tagen machte. Diese Äußerlichkeiten aber waren kein Ersatz.
Am Anfang hatte ich seinen Geburtstag vergessen. Selbst seine Hausnummer konnte ich mir lange nicht merken. Ich ahnte nur, wo er wohnte, wenn ich in der Gegend war. Wie Hunde, die eine bestimmte Fährte witterten und immer wissen, wohin sie gehen müssen, sind wir damals aufeinander zugegangen. Es gibt Tatsachen, die man weiß, ohne zu wissen, warum es so ist.
Der einzige Grund, der mich abhielt, mich sofort auf ihn einzulassen, war, dass ich nichts über ihn wusste und nicht verstand, warum ich mir ihn ausgesucht hatte. Wie viele Menschen hatte ich Erwartungen aufgebaut. Ich wollte nicht die alten Fehler wiederholen und dachte, es ist sicherer, wenn ich ungefähr wusste, was möglicherweise meinen Bedürfnissen entspricht. In jeder Hinsicht entsprach er keiner meiner Vorstellungen und war gleichzeitig die Erfüllung aller meiner gefühlten und noch ungefühlten Wünsche. Er war bei der ersten Begegnung mein zu Hause.
Ich träumte in der Nacht nach unserem ersten Treffen, dass ich ihn suchen musste und ihn unbedingt wiedersehen wollte. Ich träumte, dass ich ihn finden musste und auf keinen Fall zu spät sein durfte. Ich verstand es zwar nicht, aber ich tat alles und suchte ihn überall. Beim Aufwachen war ich enttäuscht gewesen, weil ich zu wenig Zeit gehabt hatte. Es war aber noch nichts verloren. Ich würde ihn wiedersehen. Es lag nur an mir.

Ich würde ihn auch jetzt bald wiedersehen. Ich hatte dennoch schon ein wenig die Zuversicht verloren. Immer hatte er in der letzten Zeit kurz vorher absagen müssen. Seine Arbeitszeiten waren zu unbeständig. Manchmal glaubte ich, dass es ihn nicht so sehr störte, wie er sagte. Was wusste ich über ihn? Vielleicht hatte er ja irgendwo eine Frau oder sogar eine Frau und ein Kind. Ich sah ihn zu selten und hatte zuviel Zeit, die ich ohne ihn verbrachte. Später schämte ich mich über meine Gedankengänge.
An diesem Tag war er wieder einmal völlig geschafft von der Arbeit gekommen und hatte mich sofort angerufen. Ich schämte mich. Er war so müde. Er wünschte sich, bei mir zu sein und konnte es wieder nicht einrichten. Als er das letzte bei mir gewesen war, hatte er sich auf mein Sofa geschleppt und war nach einigen Minuten eingeschlafen. Es war ihm unangenehm und er dachte noch kurz vor dem Einschlafen, dass es für mich sicher nicht einfach sei, wenn er oft so müde war. Ich war nur glücklich, dass er da war. Aber nun nach über einer Woche, in der er nicht da sein konnte, fühlte mich zu weit weg von ihm. Es war besser, ihn schlafend neben mir zu sehen als wach am anderen Ende der Leitung hören.

Ich hatte schon oft gedacht, dass er mich in sein Leben nicht einbauen könnte und es einfacher für uns beide wäre, wieder allein zu sein. Aber das Heimweh nach ihm wäre unerträglich. Heimweh hat man immerhin erst, wenn man irgendwo ein zu Hause hat. Es ist immer noch besser, ein entferntes zu Hause zu haben als keines. Ich wollte lieber warten und traurig darüber zu sein, ihn nicht sehen zu können, denn es besteht immer noch die Möglichkeit, ihn zu sehen.

Manchmal ging ich abends allein noch in ein Café und konnte dort andere Männer sehen. Auch wenn ich das Gefühl für Anton nicht verstand, keiner der anderen Männer käme so sehr für mich in Frage. Ich hielt es meist nicht lange in den Cafés aus und wünschte mir, dass nur Anton da wäre. Egal wo und egal wie lange. Seltsam, wie einsam ich mich fühlen konnte. Bevor ich ihn getroffen hatte, war ich ausgefüllt. Ich fühlte mich frei und selbständig. Ich konnte für mich sorgen und hatte es selbst in der Hand, wie gut ich mich fühlte. Jetzt konnte ich immer noch alles tun, wie ich es wollte, doch es war nur noch die Hälfte der Substanz, die mich ausgefüllt hatte. Er hatte sich in die Substanz gehöhlt. Er war wie flüssiger Kitt, der in die Poren von Schaumstoff floss und sich dort ganz selbstverständlich niederließ. Dass ich mich danach gesehnt hatte, hatte ich vorher nicht gewusst.

Er war in diesem Moment am anderen Ende der Leitung und konnte nicht spüren, dass ich mich allein fühlte. Ich sprach ihm zu, er solle sich ausruhen und dass seine Arbeit Vorrang hatte. Ich wusste, dass die Vernunft der Worte nichts mit der Wahrheit gemeinsam hatte. Sicher wusste er das, doch war er gleichzeitig derjenige, der sich erst ausruhen musste, bevor er mich sehen konnte. Er war noch außer Atem, als er nun mit mir am Telefon sprach. Eine Nachtschicht und eine halbe Tagesschicht lagen hinter ihm. Er hatte dennoch daran gedacht, mich anzurufen, weil er es einen Tag zuvor versprochen hatte. Wir würden uns wieder nicht sehen. Ich wollte es ihm leicht machen und wünschte ihm gute Erholung, bevor ich auflegte.

Ich setzte mich auf mein Sofa und sah aus dem Fenster. Der Sohn des Vermieters war nicht mehr da. Es war draußen still geworden. Ich öffnete das Fenster einen Spalt. Der Himmel zeigte schon eine leichte Dämmerung. Die Luft war kühl. Ich fröstelte. Ich schloss das Fenster vorsichtig und drehte die Heizung leicht auf. Sie gluckerte und schon nach kurzer Zeit war oben die erste Wärme zu spüren. Ich lehnte mich an den Heizkörper. Ich schaute auf das Telefon und fragte mich, was Anton in diesem Moment tat. Die Antwort lag an einem Ende der Leitung meines Telefons.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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