Patrick Rabe

Hamburg, Rathausmarkt

Sommer 1999. Noch ist er nicht ganz vorbei. Über dem Hamburger Rathausmarkt liegt er und auf den Menschen, die ihn um die Nachmittagszeit bevölkern. Und warten. Auf was, weiß keiner von ihnen zu sagen, aber es manifestiert sich überall, in jedem von ihnen. Und das, worauf sie warten, trägt die unterschiedlichsten Gesichter.
 
Der hübsche junge Esoteriker mit seinem tibetischen Totenbuch wartet ebenso auf den Weltuntergang, wie die Zeuginnen Jehovas, die vor der Buchhandlung stehen, und ihn kritisch mustern. Sie tragen graue Frauenwesten , strenge Röcke und Stützstrümpfe gegen das Wasser in den Beinen. „Verflachtes Weltbild!“ denkt er. „ Verlorene Seele!“ denken sie.
 
Der Philosoph, der seine Kantlektüre gegen ein Buch des Dalai Lama eingetauscht hat, wartet auf einen einschneidenden Wandel in Moral und Gesellschaft. Und der tatkräftige Ökologe, den er anspricht, möchte ihn mitgestalten.
 
Die drei blauuniformierten U-Bahn-Kontrolleure warten auf die Ablösung und Opa Fritsche wartet darauf, dass ihm endlich das Wort für Jahrtausendwende mit neun Buchstaben einfällt.
 
Aus einem der Bürohäuser kommt wütend ein akkuratgekleideter Yuppie gestürmt. „Dumme Zicke!“ brüllt er, greift nervös an seinen Krawattenknoten, und macht sich so, was sonst nicht seine Art ist, Luft. Da steht er nun, ein erfolgreicher Geschäftsmann, zuhause an der Börse und sicherer Taktiker und erkennt, dass sein Privatleben nicht so gesichert ist wie seine Existenz. „Tscha, mien Jung. Aufe Liebe kommt dat an!“ ruft ihm ein zerschlissener Penner mit verschmitzten Schweinsäuglein zu. Der Yuppie zuckt zusammen. Geht es schlimmer? Er richtet sich auf und blickt bemüht desinteressiert durch den Penner hindurch. Der grinst stillvergnügt.
 
Die alte Lena schaut kurz auf, dann isst sie weiter. Sie wartet auf die nächste Tasse Tee, auf das nächste Buch, auf den nächsten Sonnenaufgang. Affekte oder Lebensangst sind ihrer abgeklärten Seele längst fremd. Zwei 19-jährige Studenten setzen sich ihr gegenüber und diskutieren hitzköpfig. Der eine – Lederhose, Windjacke mit einem „A“ – beschwört die Vorteile der Anarchie. Der andere – Stoffmantel, lange Locken – die des Traditionellen, das immer mehr verlorengehe.
 
Die junge Lena, die schnell vorbeirennt und „Michael!“ ruft, wartet auf einen Bescheid für ihre Weiterbildung.
 
Ein Ort. Viele verschiedene Menschen. Man geht, man schlendert, man rennt, man sammelt sich. Allein, zu zweit, zu vielen. Die Antwort liegt im eigenen Herzen und das Gold auf der Straße.
 
Und über allem weht der Geist der Jahrtausendwende.

Dieser Text entstand tatsächlich auf dem Hamburger Rathausmarkt. Und zwar Ende August 1999, am Ende eines ereignisreichen Sommers, in dem der kommende Weltuntergang überall Thema war. Bei mir und meinen Freunden herrschte dennoch Aufbruchstimmung. Von dieser Spannung lebt mein Text. Mittlerweile haben wir wieder einmal einen "Weltuntergang" hinter uns, deswegen diese nicht mehr ganz aktuelle Geschichte nun auch hier!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.05.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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