Klaus Mattes

Der kleine Italiener / 3746

Man sagt, dass am Bahnhof ein kleiner Strich ist. Ich wohne im Bahnhofsviertel. Wenn ich auf den Zug gehe, sehe ich niemals Stricher. Ich sehe Schüler in Grüppchen, auch Junkie-Frauen, die am Parkplatz stehen. In der Bahnhofshalle rauchen in den Winkeln manchmal Männer, die ich nachts im Park schon bemerkt habe. Etwas muss hier gehen, ich weiß aber nicht, was.
Auf meinem Weg zum Bahnhof komme ich am kleinen Italiener vorbei. Nicht immer, aber oft. Der kleine Italiener ist ein Junge von vierzehn oder fünfzehn Jahren, der auf der Straße rumhängt. Er tut nichts, hat kein Skateboard, keinen Fußball, raucht nicht einmal. Er sitzt dort auf einem Stein, der die Zufahrt zum Bahnhof verhindern soll, oder geht immer nur auf und ab in der Nähe von dem Stein. Wenn man ihm ins Gesicht guckt, schaut er auf den Boden.
Dann ändert sich was. Der kleine Italiener ist jetzt manchmal drin in der Bahnhofshalle. Er raucht jetzt, und er spielt am Automaten, mit dem man sich Visitenkarten machen kann. Um neun Uhr abends ist der Kleine noch im Bahnhof. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass es eigentlich ungewöhnlich ist, wenn man in diesem Alter immer alleine ist. Ich gucke ihm in die Augen. Das stört den Italiener auch nicht mehr. Er guckt zurück, ausdruckslos.
Der kleine Italiener muss mittlerweile fünfzehn oder sechzehn geworden sein. Ist unglaublich hübsch geworden. Ein Dünner ist der, dunkelbraune Haare, ganz kurze Haare, braune Augen, kein Schatten von Bart, dünne Brauen, dünne Haut. Ein wenig verhungert sieht er aus.
Wann geht der kleine Italiener zur Schule oder ins Geschäft? Ich sehe ihn praktisch jedes Mal, wenn ich zum Zug haste. Mittlerweile freue ich mich auf unseren Blickwechsel, der mir einfällt, wenn ich aus dem Haus trete. Immer habe ich es eilig, immer bin ich knapp am Zugverpassen. Praktisch immer kommt der Blick vom schmalen Jungen. Und sein Blick ist schön.
Vom Bahnhof ist er inzwischen wieder weg. Mit einem anderen Italiener, einem molligen Typen Ende zwanzig, der jedes Mal einen Blaumann trägt, von dessen Lippen eine qualmende Zigarette baumelt, bastelt er wochenlang an einem Auto, das sie neben dem Stein gestellt haben. Der mit dem Auto ist ohne Glanz. Der Glanzlose hat mich nie beachtet. Aber der kleine Italiener kennt mich. Er kniet neben dem Reifen, hat einen Blaumann an, einen ölig fleckigen, schaut pünktlich nach oben, wenn ich seinen Blick fangen will. Dann fliegt unser Lächeln durch die Frühlingsluft, das keiner kennt.
Meine Straße runter, also eher ein Stück weg vom Bahnhof und dem Italiener, den ich in unmittelbarer Bahnhofsumgebung treffe, gibt es noch einen Jungen, der mir aufgefallen war. Der ist, glaube ich, nicht Italiener, eher Jugoslawe oder vielleicht Türke. Ein Jahr älter wahrscheinlich und längst nicht so grazil. Aber er hat was an sich, erklären kann man es nicht, man kann es merken, wenn man so etwas merken kann. Sein Gesicht ist fleischig und breit. Die Statur geht ins Untersetzte. Aber so was Verwegenes um ihn! Das gefällt mir. Dieser Junge guckt immer weg und geht auch schnell fort, wenn er spürt, dass ich ihn ansehe, was er nämlich genau merkt. Er ist kein Junge wie alle anderen. Er kauft auch mal ein für seine Leute.
Einmal habe ich es eilig, ich muss noch was besorgen. Ich laufe am Haus vorbei, das Haus mit dem Jugo. Zwei Leute kommen das Treppenhaus runter, die Tür geht auf. Zwei Jungen kommen raus. Jetzt sind der Jugoslawe und mein kleiner Italiener zusammen. Das wundert mich nicht. Hier im Viertel sind nur diese mir aufgefallen.
Sie laufen in die andere Richtung. Erst nach Metern kapiert mein Hirn einen Teil von dem, was der Ältere gesagt hat. Der Verwegene hat zum Kleinen gesagt: „...brauchst wieder was für die Rosette.“ Und Rosette gehört nicht zu meinem aktiven Wortschatz. So Halbwüchsige sagen komische Sachen, manchmal.
Die Blicke und das winzige Lächeln, das bleibt, wie es war. Der Italiener mag es immer noch, dass ich ihn mag. Mit jedem Mal wird er schöner. Langsam macht er mir Angst. Im Gesicht wird er immer schmaler, er sieht verhungert aus. Als ob er heimlich krank wäre. Grad das ist zum Verrücktwerden schön.
Nach einiger Zeit übernehme ich im Industriegebiet einen Job. Mit den Zügen fahre ich nicht mehr, zum Bahnhof komme ich kaum noch. Es ist sonnig. Es ist warm. Es ist Mittag. Auf dem Fahrrad, im Blaumann, fröhlich falsch pfeifend kommt ein Arbeiter auf mich zu und ist der kleine Italiener. Viel gesünder ist er geworden. Von nun an kommt er in meiner Mittagspause immer genau dieses Straßenstück entlang. Inzwischen kommt es auch mal vor, dass der Eine gar nicht mehr hinsieht, wenn der Andere ihm nachschaut.
Der Winter ist da. Rollsplitt, Kracherhülsen, eisige Finsternis, wenn ich zum Park laufe. Und oben im Park ist dann kein Schwein. Man weiß das vorher, setzt aber auf die glorreiche Ausnahme von der Regel, wie ein Spielsüchtiger. Der Boden kracht unter deinen Füßen.
Eine Parallelstraße vor der, die an der Parkmauer entlangläuft, ist ein großer Platz, wo sie was abgerissen haben. Es gibt Parkplätze, aber nicht so viele. Aber man kann reinfahren und abseits der Straße eine Runde drehen. Da stoppt auch der Airportbus, auch mitten in der Nacht. Es gibt Altglas- und Papiercontainer, Schutzdächer, Bänke, eine Telefonzelle, zerdrücktes Grün. An sich ist die Gegend nachts sehr ruhig, trotzdem geht an diesem Platz immer was.
Da stehen Leute mit Mänteln und Hüten und bombastischen Koffern. Manchmal rollt leis und langsam ein Wagen über den Platz und verschwindet. Wenn man stehenbleibt und aufpasst, merkt man, dass Autos hier nicht durch müssen. Es ist immer nur der Eine oder auch mal zwei von ihnen, die wieder und wieder auftauchen. An der Ecke vor dem Licht der Bäckerei steht ein Mädchen. Neuerdings ist sie sogar schon in den Leserbriefen der Zeitung aufgetaucht und hieß: der Babystrich. Wenn man sie sieht, weiß man schon, dass irgendwo ihr Aufpasser oder Freund versteckt ist und Wache hält. Manchmal spricht sie mich an, manchmal ist es eine andere, die sagt dasselbe: „Hast du Lust?“ Meistens stehen sie nur dort und rauchen. Hält ein kreisender Autofahrer an, beugen sie sich in die Seitenscheibe.
Drei ist durch. Wir sind schon im sechsten Januar, ein Feiertag hier. Vor der Telefonzelle steht ein Junge und wartet, obwohl die Zelle frei ist. Steht jetzt schon fest, dass ich mir den genau anschauen werde. Der kleine Italiener erkennt mich sofort. Sofort schaut er weg. Ich glaube, das jetzt ist das erste Mal, dass er genau darum, weil ich ihn angeschaut habe, weggeschaut hat.
Ich gehe weiter auf meinem Heimweg. Und dann kehre ich um. Er sieht mich kommen. Als ich die Bäckerei erreicht habe, überquert er die Straße und tut, als ob er was von dem Zigarettenautomat wollte. Sechzehn, siebzehn wird er inzwischen sein, da raucht man schon was weg, wenn man Italiener ist. Ich höre die Münze fallen, aber er zieht nicht. Er steht und schaut sich verstohlen um. Schließlich drückt er den Rückgabeknopf.
Ich laufe noch ein Stück in Richtung Ausfallstraße und kehre dann um. Jetzt steht der Italiener wieder auf meiner Seite. Weit und breit kein Mensch. Und kein Auto. Der Italiener geht in die Telefonzelle, telefoniert aber nicht, blättert nicht mal im Telefonbuch. Er steht in der gläsernen Zelle und wartet.
Ich bin mir sicher, dass das einer seiner ersten Anläufe war und dass wir ihn im Sommer im Park drin bei den schwulen Männern sehen werden. Dort kennen wir uns dann auch nicht mehr, denke. Das ist schon lustig und ein wenig traurig
Aber so ist es nicht gekommen. Vielmehr sehe ich den Italiener überhaupt nicht mehr. Nicht im Industriegebiet, nicht vor dem Bahnhof, nicht im Bahnhof, nicht tags, nicht nachts.
Nach all dieser Zeit hat er mich vielleicht vergessen.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.06.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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