Klaus Mattes

Rewell und van Menden / 6321

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In unserer Stadt, im zweithöchsten und einwandfrei hässlichsten Bauwerk, einem Wolkenkratzer aus den siebziger Jahren, gab es lange Zeit das legendäre Tanzcafé Canaria. Nicky van Menden war der Haus-DJ vom Canaria. Dieses Tanzcafé Canaria war berühmt, weil es der einzige Gaststättenbetrieb war, der – außer am Ruhetag – jede Nacht von Anfang bis in den Morgen weit offen stand und seinen Ruf weg hatte, die Aufreißpiste für Romeos 30 plus zu sein, vor allem aber für Julias 30 plus plus, die angeblich für Fabrik- und Bauarbeiter aus mediterranen Ländern durchaus was darstellten. Es ist an dieser Stelle einsichtig, warum ich van Menden viele Jahre weder kannte, noch überhaupt in der doch ganz übersichtlichen Stadt auch nur ein einziges Mal wahrgenommen hatte. Später sollte ich erfahren, van Menden war längst bekannt wie ein bunter Hund.

Mir stach Nicky erst während einiger meiner, immer rarer werdenden Besuche im einzigen Schwulenschuppen ins Auge. Und zwar erst einmal nicht wegen seiner männlichen Attraktivität, sondern weil er, zusammen mit Rewell ab irgendwann alle Tage und zu jeder Stunde an der Bar hockte, rauchte, trank und würfelte. Das allein wäre noch angegangen und nicht der Rede wert, wenn die beiden nicht eine kleine Schar so aufgedrehter wie unbekannter wie aber auch wirklich hübscher Buben um sich versammelt hätten. Die Jünglinge gaben sich gegenseitig immer wieder Runden eines bei uns Hütla genannten Mischgetränks aus. Und zwar, ganz erstaunlich, ließen die Jungen öfter als die beiden Alten, Rewell und Nicky, den Rubel rollen, was wir so schreiben um zu bemänteln, ob es während der Mark- oder schon in der Euro-Zeit gewesen ist.

Die Hütla wurden in Cognacschwenkern serviert und enthielten das normale Quantum einer Spirituose sowie deren vierfaches Volumen in Gestalt einer stark aromatisierten, gesüßten Limonade. Zum Beispiel weißen Rum mit Bitter Lemon, Asbach unter Cola, Almdudler mit Gin oder so.

 

Rewell, von dem niemand wusste, ob er vorne oder hinten wirklich so hieß, alle wussten, dass er Rewell mit W in der Mitte war, vielleicht lag es auch an der René-Weller-Jacke, die er früher getragen hatte, Rewell, von dem niemand wusste, von was er lebte, ob er arbeitete, man sah ihn nur in den Straßencafés rasten oder mit Jungs und Mode-Tragetaschen durch die Fußgängerzone schleichen, Rewell kannte ich vom Sehen, weil er früher im Club Bossa mitgewirtet und die Sommervertretung übernommen hatte, bevor der alte Wirt starb und das Lokal danach bald von der Landkarte verschwand.

Beide Männer waren schon etwas über vierzig, beide ausgesprochen dünn, dunkelhaarig, hatten dunkle Augen, die tief in Höhlen lagen. Beide waren sie auch irgendwie bärtig, allerdings nicht richtig. Van Menden hatte drei dünne Bürstchen zu Seiten seines Mundes und die Mitte des Kinns hinab, wie man es von den alten Holländern kennt. Rewell trug ein schütteres Oberlippenbärtchen bleistiftdünn, wie der verewigte Club-Bossa-Wirt es getragen hatte. Weil er mich als Bossa-Besucher kannte, nickte Rewell mir zu und rief mir beim Gehen Tschüss hinterher, wobei die Aufmerksamkeit dieser beiden vornehmlich natürlich von ihren jungen Kameraden mit Beschlag belegt war. Im bürgerlichen Leben hatte der DJ, dessen Künstlername (teils auch mit Bildchen) man immer wieder den Plakaten in städtischen Bussen entnehmen konnte, wenn die anstehende Club-Night mit Bändchen und Shuttle-Service beworben wurde, früher noch Nikolaus Menzel geheißen.

 

Wie brachten diese zwei Schwuchteln das hin, diesen süßen Kindergarten nicht nur einmalig, sondern immer wieder, sogar mehrmals in einer Woche, um sich zu scharen? War man eingekehrt und keinerlei Rewell oder van Menden waren an der Theke, konnte man gleich wetten, dass auch keiner der Knaben sich würde jetzt noch blicken lassen. Sobald aber einmal die zwei Urgesteine, als solches war der Club-Bossa-Wirt im Nachruf des Stuttgarter Schwulen Blättles bezeichnet worden und es sollten Jahre vergehen, bevor ich erfuhr, dass entweder van Menden oder Rewell oder beide gemeinsam das geschrieben und eingeschickt hatten, auf ihren Barhockern Platz genommen hatten, stand nunmehr fest, dass sie nicht zu zweit alleine bleiben und würfeln würden, wie früher, sondern die ganze muntere Koppel dieser kleinen Füllen würde bald um sie herum springen und jubilieren.

 

Eines Tages steckte mir einer, dass genau dieses die neue, die nunmehr zweite Schwulengruppe unserer Stadt wäre. Tatsächlich ergab sich bei Nachschau im Homoführer des Stuttgarter Blättchens, an dem ich selbst seinerzeit noch mitarbeitete, hatte ich nicht die meisten der Homoführer-Einträge ergänzt oder auf den neuesten Stand gebracht, dass die sich selbstironisch Provinzprinzen nennende „Schwule Freizeit-Gruppe“ alle vierzehn Tage exakt an dieser Theke tagte oder nächtigte, sich traf, wobei die offiziellen Termine wohl nur den kleineren Teil der Selbsthilfe bildeten. Mit gewohnt dünnlippigem Schmunzeln bückte Rewell sich im Vorbeigehen zu mir hinab und sagte Dankeschön für den Abdruck dessen, was er „unsere Kontaktanzeige“ nannte. Meine Beteiligung am Stuttgarter Blatt war bekannt, weil ich seit langem eine Handvoll, mehr brauchte nie jemand, des Stuttgarter Blättchens vier Mal im Jahr in den Kondomladen, ins Rainbow-Reisebüro, zur Aids-Hilfe, zur Schwulengruppe, jetzt auch ins neue Lokal und früher zum Club Bossa brachte. Was Rewell eher noch nicht bekannt sein konnte, ließ ich der Schwulengruppe die Gratisexemplare inzwischen über die Aids-Hilfe zukommen, weil ich mich mit meiner Gruppe, der ersten und im Grunde immer noch einzigen, kürzlich überworfen hatte.

 

Aber dieser alten Gruppe wie auch dem Homoführer aus Stuttgart fühlte ich mich nach wie vor verbunden, sodass diese Entdeckung mir zusetzte. Die Provinzprinzen standen jetzt schon drin, bevor ich überhaupt wusste, dass es sie gab, meine eigene alte Gruppe war dagegen aus dem Verzeichnis gerutscht. Solche Dinge passierten immer wieder mal, wurden Monate oder Jahre von keinem bemerkt und konnten später dann nie mehr erklärt werden. Irgendeiner hätte es nur mal merken und die Stuttgarter benachrichtigen sollen, die zwar immer noch meine Stuttgarter waren, aber ich war jetzt auch der Abtrünnige der Gruppe, nicht einen Finger würde ich noch für sie rühren.

Der komplette Name jenes Trinkgelages anonymer Süßgetränke-Süchtiger lautete: Poppy Doc's Provinzprinzen. Es fragt in solchen Fällen nie einer, wer da der Doc ist und wem so ein fragwürdiger Name eingefallen ist. Ich bin der Eine, der so was wissen will. Als ich fragte, ergab sich, dass es einen Poppy Doc nie gegeben hatte, nicht mal einen Hund, der so gerufen wurde. Aber ausgedacht hatte sich alles der Pressesprecher. Nicky van Menden also.

 

Ich war, wie erwähnt, fast nicht mehr in diesem einzigen und seinerzeit noch neuen schwulen Lokal zu Gast, allerdings immer noch nachts im Park unterwegs. So menschenleer und friedlich, wie man ihn kannte, blieb es da oben nicht; schon eroberten mit Gekicher und Geschwätz die Provinzprinzen und ihre Könige van Menden und Rewell das Grün. Sie konzentrierten sich auf den Kinderspielplatz, wo sich das Nachtleben sowieso konzentrierte, aber nicht im Spielplatz, sondern knapp davor, auf den paar Bänken, die längs der Heckenwand aufgestellt waren. Sodass sie gut erkennen konnten, wer hineinging, und man drinnen ihrer Tuntenplauderei lauschen musste, wenn man primär Wichtigeres zu tun hatte.

Die Mutigsten erhoben sich hin und wieder, liefen einzeln, zu zweit oder zu dritt an den Schwulen entlang, dann wieder hinaus. Rewell und van Menden und ihre sitzen gebliebenen Freunde gaben Acht, dass keiner verloren ging. Die zwei Alten blieben draußen und rauchten schön was weg. Sie waren alte Hasen und ahnten, dass die schönsten Neuzugänge nur sie in ihrer Gewalt hatten. Bisweilen und wenn die Zeit zu lang wurde, standen sie doch mal auf und liefen miteinander, komplett in der Meute, die große Parkrunde ab, was außer guter Luft nie was brachte für einen Einzigen von uns allen. Der sexualisierte Schwule ist ein Raubtier und Einzelgänger. Er geht nicht sozial und solidarisch vor, sondern chaotisch, anarchisch und egoistisch.

 

Selbstverständlich rauchten wir damals noch alle, meistens Filterzigaretten, mit dem Hartz folgte der Goldfield-Tabak aus der Lidl-Dose. Ich brachte es anfangs sogar fertig, mein Maschinchen für die Papierhülsen und Filter mit in den Park zu bringen. Rauchmeister aller Klassen war Rewell, der mit fleischlosen Unterarmen die Glühspitzen steilauf ins Sternenzelt spießte. Anschließend wurden die qualmenden Stummel im roten Bogen über den Spazierweg gespickt. Es gab da eine Art Wettbewerb, wessen Teil am weitesten flöge.

Mir fällt ein, dass einen neben Rewell eine Art Unbehagen beschlich, weil dieser Mann eine feuchte, etwas lispelnde Wortbildung hatte. Es sind da schon erste Gerüchte umgegangen, dieser Klapperdürre, nie was Arbeitende, wäre an Aids erkrankt. Das heißt, wenn überhaupt, war Rewell mit dem HI-Virus infiziert, aber bei uns kürzte man das ab per „Der hat AIDS!“ Man wusste, dass man bei versehentlich eingefangenen Spuckekügelchen nichts zu fürchten hatte. Auch aus den Gläsern im Club Bossa hatte man getrunken, wo Rewell gekellnert hatte, wo der Wirt auffallend häufig ins Krankenhaus gekommen war, sodass es nach dessen frühen Tod, die Sechzig waren nicht erreicht, geheißen hatte, Aids habe ihn geholt. Was aber in Form jener Urgestein-Eloge im Stuttgarter Blättle revidiert worden war, zu Gunsten einer schweren Lungenkrankheit. Es mag auch einfach nur daran gelegen haben, dass der Rewell von ganz tief innen hervor und durch und durch wie ein nie mehr geputzter Ascheeimer roch und man das, je länger man saß, umso unangenehmer empfand.

 

Die Jungen, von denen die meisten wahrscheinlich noch bei ihren Eltern lebten und die am Morgen früh aufstehen mussten, schwirrten nach und nach davon, während van Menden und Rewell noch ein wenig blieben. Begleitet vielleicht von jenem Trio, das sich dem Uneingeweihten als harter Kern der Provinzprinzen immer deutlicher offenbarte. Da war zum Einen Eric, eine hellblonde Bohnenstange mit zitternder Pupille, falls man sie direkt und längere Zeit fixierte. Eric glich dem jungen Thomas Bernhard der Nachkriegsjahre, der in jenem Alter doch ziemlich hübsch gewesen ist; weiter glich Eric ihm allerdings nicht. Dann war da Micha, unfassbar schön, nicht so eckig und unbeholfen wie Eric, kleiner, dunkler, wie aus dem Ei gepellt, heiter, freundlich, zuvorkommend. Es ging leider nicht mehr lang, bis das Gerücht umlief, Micha sei eine Nutte, die eiskalt jeden Jungen aufreiße, ihn im Verlauf von ein, zwei Übernachtungen dann aber gleich wieder zum Alteisen aussondere. Sowieso war Michas Gastspiel im Park ein recht kurzes. Micha machte sich selbstständig als Finanzagent in einer etwas entfernten Kreisstadt. Von dort - und unter tätiger Mithilfe von van Menden und Rewell - war zu hören, Micha sitze ein für länger, weil er seine Kunden um Geld geprellt habe.

Der Dritte war Fabi, auch groß, nicht so groß wie Eric und viel dünner als der, rehäugig braun, mit etwas Dunklem über dem breiten Mund, das sich Mühe gab, irgendwann zu einem Schnurrbart à la Rewell zu werden. Ich meine, Fabi konnte nicht ahnen, dass solch spätpubertäre Bartversuche und auch die Art von braunem Unschuldsblick und diese vorstehenden Knochen unmittelbar erotisierenden Reiz auf mich ausübten. Von Poppy Doc's Meute blieb auf längere Sicht nur Fabi der Eine, der mein Herz zum wilden Schlagen aufstachelte, was ich aber unterdrückte. Fabi war genau der, mit dem man es mir wieder mal hätte geben können: „Du suchst dir immer nur die falschen Leute raus!“ Seinerzeit hatten wir noch eher wenig miteinander zu tun. Van Menden und Rewell hielten ihre Küken gut in Verwahrung und antworteten, solange sie diese Begleiter um sich hatten, auf jedes Hallo kühl zerstreut mit einem stumm mitschwingenden „Und tschüss!“

Rewell, der manchmal eine übersinnliche Begabung hatte, raunte mir zu, wenn alle anderen gegangen waren, Fabi in seinem weißen Hemd, der sehe zwar gut aus, sei aber ein problematischer Fall, nämlich vom Seelischen her noch eine kleines Kind, so sechs Jahre alt, das danach verlange, mit Scherzen auf Sechsjährigen-Niveau bei Laune gehalten zu werden. Es stimme schon, Fabi hätte diesen bedeutenden Schwanz, von dem erzählt werde (ach ja?), er wäre aber jeder vernünftigen Auswahl abhold und ficke schlicht alles, was er kriegen könne und ohne jede Schutzmaßnahme; das Kind pfeife aufs Risiko.

 

Ohne dass es mich weiter beschäftigte, mag ich irgendwann, wahrscheinlich Monate zu spät, gerafft haben, dass Rewell und Nicky zerfallen waren und jetzt nirgendwo mehr zusammen auftauchten. Ins schwule Lokal ging ich da aber schon gar nicht mehr. Auch den Niedergang und Zerfall der zweiten Schwulengruppe unseres regionalen Unterzentrums bekam ich also nur mittelbar und zeitversetzt noch mit. Es war wieder die kalte Jahreszeit und da war klar, dass die Jungen nicht stundenlang im Park sitzen und dabei lachen würden. Sie tanzten nur einen Sommer. Ich meine mich zu entsinnen, dass ich beiden, Rewell wie Nicky von Menden, dort oben immer noch gelegentlich begegnete, wir wechselten wohl ein paar Worte, aber es fiel mir nicht weiter auf, dass sie jetzt immer getrennt herumgeisterten.

Am Ende blieb mir Rewell und dieser besann sich, dass wir uns immer gemocht und ziemlich gute Freunde gewesen waren. Kaum war er wieder da, setzte er sich zu mir und machte sich eine Zigarette an. Oder er lief erst eine Zeitlang mit Fabi und Eric herum, lud mich dann per Stehenbleiben und Äußern einer belanglosen Frage dazu ein, mich ihrem kleinen Kreis zuzugesellen.

Van Menden sah ich schon auch noch, eher weniger. Der stand in diesen Wintermonaten, wenn es früh dunkel wurde, zwischen etwa 17 und 19 Uhr oben am Abgang zur Toilettenpassage beim Rathaus, wenn ich mal durchs Zentrum kam. Der Betrieb in dieser letztverbliebenen hindernisfreien Anlage und somit die einschlägigen Herren waren an sich unterirdisch. Van Menden quittierte mein Erstaunen mit der Erläuterung, er hätte nichts vor, es kämen nur immer viele von seinen Bekannten hier durch, sodass er die Gelegenheit für ein kleines Schwätzchen gerne nutze.

Ja-ha, lachte Rewell im Park draußen, der renommierte Plattenaufleger kann nachts nicht raus und auch früh am Tage nicht, weil er sein DJ-ing wieder treibt, aber in Provinzpalästen, wo er viel Zeit braucht, weil er mit Bus und Bahn reist, denn den Lappen haben sie ihm genommen! Sowieso sei, was diesen Spezi anlange, manches noch im Busch, ein größerer Prozess stehe unmittelbar bevor.

Übrigens fiel nebenbei die Info an, dass Rewell tatsächlich außer Arbeit war. „Als ich noch gearbeitet hab“, hatte er gesagt. Zugleich war von „unserer Firma“ die Rede gewesen. Dass er „im Penthouse“ wohne, „die Putzfrau von unserer Firma“ es propper halte. Rewell fragte nach dem Stuttgarter Blättle. Man gehe allgemein davon aus, dass es bald den Schirm zumache, beziehungsweise schon nicht mehr existiere, was ich wohl besser wüsste. Nein, musste ich zugeben, keineswegs, ich bin ausgeschieden, aber als ich zuletzt dort war, ging es allen sehr gut. Weiterhin erfuhr ich, dass der mit einem Fantasienamen gezeichnete Artikel im Blättle über die Provinzprinten und deren Polizeiarbeit (Polizeiarbeit!) von Nicky van Menden, dem Pressemenschen, geschrieben gewesen war. Da sei nicht viel dahinter gewesen, die meisten hätten es nicht mal gewusst, aber Nicky habe seinen Geltungsdrang. M-hm, machte ich.

Bei nächster Gelegenheit wurde nachgelegt. Nicky habe jahrelang im Tanzcafé Canaria gejobbt, aber was denkst du, immer schwarz, offiziell sei er Arbeitsloser gewesen und habe Arbeitslosenhilfe bezogen. Momentan wechsele der DJ seine Wohnungen wie die Hemden, zahle nirgendwo Miete und hinterlasse einen Berg Schulden. Damals im Tanzcafé Canaria hätten sie ihn nach der zweiten Kontrolle in Handschellen rausgeführt. Schon beim ersten Mal war aufgefallen, dass dieser DJ nicht angemeldet war. Doch als der Zoll zwei Nächte später noch einmal nachgeschaut habe, hätte exakt derselbe Arbeitslose die Maschine gefahren. Das wäre dem Arbeitsamt gemeldet worden und Nicky habe es von seinen Leistungen abstottern müssen. Er sei schon auch ein Pechvogel. M-hm, machte ich.
Für mich las sich das wie ein Eifersuchtsdrama, wobei die genauen Umstände mir nie erzählt wurden.

Als der Winter endlich endete, es aber noch nicht warm war, trat Rewell wieder von der Bühne ab und sozusagen im selben Atemzug ersetzte ihn Nicky. Van Menden seinerseits schien eher nicht der Ansicht, dass wir alte Freunde wären und legte es eher darauf an, mir aus dem Weg zu gehen. Über vereinzelte Hallos kamen wir nicht mehr heraus.

In jener Zeit fiel ein Schwarm unbändiger Kinder oder Jugendlicher in die nächtlich einsame Grünanlage ein. Eine internationale Truppe, keine Schwulen, jedoch mehr Jungen als Mädchen, laut und munter, Farbige, Türken, Russlanddeutsche, was es so gibt in den werktätigen Klassen. An die wenigen schwulen Männer trauten sie sich nicht heran, schlichen sich allerdings, nachdem die Männer drinnen verschwunden und nicht mehr hervorgekommen waren, bei den einstigen Provinzprinzen-Bänken am Spielplatz herum. Oder wenn man dort schon saß, rauchte und sich unterhielt, stapften sie vor einem querbeet über die große Wiese.

Es zeigte sich, dass es einen kleinen Chef gab. Das war der Bernie, ein hier geborener Deutscher, blond, im Alter von 14 Jahren. Bernie und Nicky von Menden hatten sich irgendwann angefreundet, als ich nicht da war. Jetzt lief der Plattenleger mit dem Jungen immer im Kreis und schenkte ihm Zigaretten und ließ mich nicht auf Hallo-Sagen-Weite heran. Nur dieser wuselnde Rattenschwanz an Kindern, die Bernie ständig hinter sich herzog, bewegte sich um sie her, quer über den Rasen, hinein und hinaus aus dem Gebüsch.

Wenn man mich gefragt hätte, Bernie war nicht schwul, nichts deutete darauf hin, er war auch nicht schön, durchschnittlich, bisschen pummelig, er war nicht mal ein glaubhafter Vierzehnjähriger. Dem Ausweis nach mochte er das sein, aber er wirkte zu kräftig, ausgewachsen, altklug, mindestens siebzehn, und war wohl nicht per Zufall zum Anführer dieser vorwitzigen Kobolde avanciert.

Als es schön geworden war und der übliche Nachtbetrieb wieder eingesetzt hatte, diese alten Gesichter wieder an einem vorbeikamen, waren die Kinder und Jugendlichen alle wieder verschwunden. Nur Bernie ließ sich hin und wieder noch sehen. Dann saßen sie auf der Bank, van Menden und Bernie, Nicky hatte den Arm um ihn gelegt. Auch das ging seinen erwartbaren Gang. Als Bernie dann auch weg war, kam van Menden überraschend aufgeregt und nähesuchend auf mich zu, um zu fragen, diesen einen Knaben, Bernie hat er geheißen, den hätte ich doch auch gesehen, damals. Der komme jetzt nicht mehr, der sei auch nicht schwul, nicht richtig, auch nicht gut beim Sex, allerdings immerhin, den habe er gekriegt. „Den sehen wir nicht wieder. Der steht jetzt unter staatlicher Aufsicht.“
Als hätte ich das alles wissen müssen.

Die nächste Umgruppierung der van-Menden-Rewell-Konstellation fand im Sommer statt. Kaum nämlich verschwand der Discjockey aus dem Grünbereich, tauchte sein ehemaliger Kamerad, der ewige Raucher, wieder auf. Und mit ihm zwei dünne Burschen, blond und braun, Eric und Fabian. Ach was, witzelte Rewell, van Menden und die Polizei- und Pressearbeit. „Ich hab dir das erzählt, wie sie ihn in Handschellen abgeführt haben!“ Die Leopardenjacke hätte ich auch vor Augen. (Leopardenjacke? Nie gesehen.) Nicky van Menden mache sich gerne wichtig. Inzwischen riefen die merkwürdigsten Vögel im Penthouse an, weil Nicky Rewells Nummer als Kontakt der Provinzprinzen überall in die Medien hinaus gestreut habe. Oft werde er nicht schlau, was sie alle jetzt noch wollten vom Musikunterhalter und der Prinzengarde, die es nicht mehr gebe.

 

Im Jahr darauf erblickte ich van Menden im Umfeld der Straßenfasnacht am Faschingsdienstag. Er hatte einen bunt gescheckten weiten Rock an und eine holzgeschnitzte Hexenmaske sowie einen Reisigbesen in seinen Händen. Als er meinen Blick spürte, machte er eine Bewegung und rief über die Straße weg sein Helau.

Zwei, drei Jahre danach überraschte er mich zur nächtlichen Geisterstunde in der Karlsruher S-Bahn, die er offenbar genommen hatte, weil es von den Karlsruhern ein billiges 24-Stunden-Ticket gab, mit dem die schnelleren Verbindungen der Deutsche Bahn preislich nicht konkurrieren konnten. Er sah schlaff und gefrustet drein und hatte einen großen, inwändig wohl gut gepolsterten CD-Koffer mit. Er hatte mich beim Einsteigen gesehen und schmetterte mir ein anzügliches „Ah, der Herr Professor Doktor Landschullehrer“ entgegen. „Geht's denn? Wünsche Wohlsein!“
Ich suchte mir einen Platz weit weg.

Beim zweiten Mal war er leiser. Jetzt stand sein Musik-Koffer gegenüber, an ihm klebte eine, auf den ersten Blich als heimtückische Jungtucke durchschaubare Schlingnatter, die sowohl er wie sie sich selbst für hübsch halten mochten. DJ Nicky van Menden schien sich meiner Sympathie nicht recht gewiss zu sein, sodass sein Körper, noch bevor sein Hirn es kontrollieren konnte, sich vor diese Begleitung schob, um sie möglichst meinen Blicken vorzuenthalten.

Eric und Fabi waren groß geworden und konnten im Park ohne Rewell und ohne Nicky und sogar unabhängig von und gegen einander agieren. Fiel der Name Rewell je doch noch einmal, dann hieß es, Rewell wäre nach Marokko, die Steuerfahndung sie ihm auf den Fersen. Ein ander Mal war man sich sicher, Rewell befinde sich wohlauf, er sei zu seinen Leuten auf dem Land gezogen, welche bekanntlich auf Säcken Geld sitzen würden. Einmal fragte mich einer, von dem ich aber wusste, dass diese Methode ihm als Klatschmaul zu Gebote stand, Leute nach etwas zu was fragen, um genau dieses sie wissen zu lassen, ob ich gehört hätte, der Rewell, der eine Wirt von Club Bossa damals, habe Aids. Ab da wurde Rewell nie mehr erwähnt, bis es eines Tages dann hieß, er wäre seit Jahren tot, wäre auch lange genug vorher schon krank gewesen.

Nicky van Menden sah man in den nächsten Jahren noch oft in der Stadt. Er trug eine Tasche mit seiner Ausrüstung und eine digitale Spiegelreflexkamera mit Zoom. Er steckte in einer gelben Warnweste, auf der hellgrau in reflektierenden Versalien, hinten wie vorne, geschrieben stand: PRESSE. Der Pressemann war beim „Plupp“ gelandet, „Ein Monat Action in Winterhauch und Weingau“, einem bunten und dicken, von Werbung und Product Placement aufquellenden Magazin, für das er nun wohl nicht schrieb, aber fast alle Fotos beschaffte. Das Holländerbärtchen war länger, spitzer und grauer. Seine ewige Müdigkeit war in die Haut eingezogen und hatte sich zum Firnis verwachsen. Den kahlen Hinterkopf bedeckte er mit einem Käppchen im Rastalook. Als Nick Menzel featurete er die Stadtmarathons, die Grümbelturniere der Alten Herren, die Unterländer Tekkno Parade, alle Schaum-Partys im Apfelbaum, die Public Viewings beim deutschen Sommermärchen, schwarz, rot und goldgestreift im grauen Gesicht. Regelmäßig füllte er zwei, später dann vier Seiten mit der Nitelife-Crowd, einer Collage aus kleinen Fotos sich am Hals hängender, irgendwas schreiender Disco-Gäste, vornehmlich gemischtgeschlechtlicher Paare.

Das Jahrzehnt mit der Null war geraume Zeit schon rum, als ich etwas irritiert einem Kerl hinterher guckte, der die ganze Zeit mit einigen Einkaufstüten gegenüber, auf der anderen Seite vom Gang gesessen, sich erhoben und zum Abschied einen bösartigen Blick auf mich abgeschossen hatte. Was was das jetzt, kenne ich den? Ich kam aber nicht drauf. Es gingen einige Bahnhöfe vorbei, bis der Groschen fiel. Der alte Mann, das war Nicky van Menden gewesen, der DJ aus dem Tanzcafé Canaria, die Leopardenjacke, die Presse von Poppy Doc's Provinzprinzen. Wer hätte das gedacht?
Man wollte ihn gar nicht mehr sehen.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.08.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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