Klaus Mattes

Gast einer Bar / 6007

 

In einem Winter im frühen 21. Jahrhundert, ich bin mittlerweile über vierzig und habe vor ein paar Monaten die wahrscheinlich letzte feste und halbwegs gesicherte Stellung, die ich in meinem Leben noch erreichen konnte, eine Arbeit als Werbetexter in einer kleinen Agentur, eigenmächtig gekündigt, kehre ich, wie reuig, mit der Zeit dann fast jeden Abend (der bei Schwulen unmöglich vor 22 Uhr beginnen kann), ins „Blue Bossa“ zurück. Das ist ein Kellerlokal in der Innenstadt, die einzige schwule Kneipe, die wir in dieser Stadt haben.

In dem mir eigenen Hochmut des Hochschulabsolventen hatte ich jahrelang gedacht, in solchen Freundschaftstempeln, die vor allem Vorhöllen der Aussichtslosigkeit sind, verkehrt nur die Sorte Mensch, die nichts zu verlieren hat, wahrscheinlich allein daheim ist, viele sind längst Alkoholiker, die es nicht schätzen, ohne Freunde trinken zu müssen. Das Lokal verfügt über ein paar Tische und Bänke und Einrichtungsgegenstände, die einen an die Copacabana denken lassen wollen. Man kann hier nichts essen, allenfalls ein paar tiefgefrorene Pizza-Baguettes, die heiß aus der Mikrowelle gereicht werden und besser riechen, als sie schmecken. Das kommt nur ganz selten vor. Vor allem darf man nicht den Fehler meiner frühen Jahre begehen, sich an einen Tisch setzen, wenn man allein gekommen ist, keine Clique als Rückhalt hat. Dann bleibt man allein in einer bogenüberspannten Kellerecke sitzen. Niemand scheint einen da noch zu sehen.

Jetzt ist Winter, was bedeutet, dass ich in den nicht weit weg entfernten Park zwar auch noch wechseln könnte, mache ich vielleicht noch, aber da weiß man vorher, dass in dieser Jahreszeit dort keiner ist. Gerade ist das eine eher trostlose Phase meines Lebens. Draußen ist es ewig dunkel, ich als Arbeitsloser und Nachtmensch stehe viel zu spät auf, wenn ich raus komme, ist keiner mehr irgendwo. Den Job habe ich hingeworfen. Ich habe das Leben nicht im Griff.

Anfangs hatte ich noch geglaubt, in meinem Fall hätten für die Kündigung von Arbeitnehmerseite her besondere Gründe vorgelegen und diese in tagelanger Arbeit dem Arbeitsamt, das so eine Erklärung angefordert hatte, genau erklärt. Jedoch war meine Verzweiflung, wie groß sie auch gewesen sein mag, nicht für stichhaltig befunden worden. Man brummte mir die übliche 12-wöchige Sperre im Leistungsbezug auf.

Einer aus dem Park hatte mir erzählt, dass die Post ständig Leute sucht. So war ich im Herbst zum Briefträger auf dem Fahrrad geworden. Mit dem, angeblich, größten Zustellbezirk der Stadt, in der Hauptsache eine Gewerbe- und Industriezone, deren größte Häuser ich nie ansteuerte, denn die hatten ihre eigenen Fahrer und Postfächer bei der Hauptpost. Anfänglich war diese Arbeit an frischer Luft geradezu ein Spaß gewesen. Die Post war aber auch da schon zu viel. Man hat in Wahrheit das Drei- bis Vierfache dessen, was in die Taschen am Rad geht. Das Gros steckt und bündelt man frühmorgens zwar eigenhändig, ein Fahrer bringt es mit dem Lieferwagen dann zu Schließschränken, die später am Tag am Weg stehen und auf mich und das Umpacken warten. Vage versprach man mir, die Übung mache auch hier den Meister und ich würde schon reinkommen. Im November fing das schlechte Wetter an. Viel Wind, der einem meistens etwas Wasser ins Gesicht klatschte. Aus der zu vielen Post wurden riesige Berge, weil sie jetzt ihre caritativen Bettelbriefe und gefalteten Kaufimpulse fürs Weihnachtsgeschäft in die Fläche hinaus streuten. Da war mir klar, wenn meine Befristung abgelaufen ist, werde ich ums Verrecken nicht mehr Briefträger bleiben. An meiner Wiege wurde das nicht gesungen.

Die Erbitterung nahm Tag um Tag zu. An sechs Tagen der Woche musste ich um halb fünf aufstehen, um ab halb sechs meine Briefe stecken und binden zu können. Ab acht Uhr morgens sah ich die Kollegen die Verteilhalle verlassen. Spätestens um neun hätte auch ich, der Anfänger, draußen sein müssen. Es ging dann immer noch eine halbe Stunde. Wenn ich abends kurz vor sechs, ach, die launigen Zurufe von Passanten: „Halb fünf und die Post verteilt ihre Briefe!“, in die Halle zurückkehrte, um die Rückschreibungen und Umsortierungen vorzunehmen, war kein Mensch mehr dort zu sehen.

Wirtschaftlich geht es mir momentan aber gut. Noch sind nicht alle Rücklagen vom Werbetexten aufgebraucht; wegen den vielen Überstunden, deren Notwendigkeit übrigens nie jemand angezweifelt hat, habe ich bei der Post recht gut verdient. Wegen meines abrupten sozialen Abstiegs und der erkennbaren Absicht, dennoch weiter was zu arbeiten, sind meine Eltern erschrocken und, wegen Nikolaus, meinem Namenstag, und der Weihnachtszeit, hat mir meine Mutter etliche Scheine zugesteckt. Schon Jahre habe ich mir keine Restaurantbesuche (keinen Urlaub, sowieso) geleistet, aber momentan ist das kein Problem, mehrmals pro Woche im schwulen Bossa was trinken zu gehen.

Ich bin früh dran, sodass außer dem Wirt, Walter, man ruft ihn in der Runde mit einem glamouröseren und weiblicheren Namen, meistens noch keiner da ist. Ich kann mir den Stuhl aussuchen und wähle so, dass ich auf längere Sicht nirgendwo an der Seite liegen gelassen und ignoriert werden kann. Obwohl ich dem Wandende der verwinkelten Theke zuneige. Dort hängt ein Automatenspiel mit dem man, auch wenn man alleine ist, Schwarzer Peter und „Trivial Pursuit“ spielen kann. Ich habe mich auf das Quizfragenspiel eingeschossen und in letzter Zeit den High Score geknackt.

Walter und ich hatten schon immer Schwierigkeiten, auf ein Thema zu kommen. Er ist vor Jahren noch viel im Park unterwegs gewesen; sie wohnen dort und müssen ihren Hund ausführen. Sexuell was anfangen mit ihm wollte ich nie. Er war mir zu feist, blond- und wuschelhaarig, zu unecht übertrieben feminin im Gebaren. Er ist allerdings ein paar Jahre jünger und hat allein darum schon paar Punkte mehr auf der imaginären schwulen Fleischmarkt-Skala, was mich allerdings kalt lässt.

Zu meiner Freude stellt sich heraus, dass es neue Schauspieler am Stadttheater gibt, welches so eine Art Durchlauferhitzer ist für andere, bessere Häuser. Ich bin jetzt Jahre in keinem Theater mehr gewesen. Das war immer so viel nutzloses Gerede und man saß eng. Auch musste ich viel fahren, denn die letzten Jahre schaute ich mir bloß noch Stuttgarter Aufführungen an. Wir bekamen ab und an Schauspieler vom Stadttheater in die Schwulengruppe hinein, der ich seinerzeit noch angehört hatte. Beziehungsweise sie gaben unserer Clique persönliche Audienzen, in der ersten offen schwulen Kneipe der Gemeinde, die es vor dem „Blut Bossa“ schon gab, nach dem Tod des Wirts war sie dann verschwunden.

Mittlerweile ist der eine schwule Schauspieler, der immer wieder im Bossa auftaucht, ein gewisser Ingo von, den ich nie spielen sah. Er benimmt sich zurückhaltend, sieht auch nicht wie ein Schauspieler aus, sondern wie ein normaler Mensch, noch jung und wirklich nett. Er ist mit seiner Freundin da, einer jungen Frau, die gerne lacht. Eigentlich weiß ich nicht einmal, ob sie nicht hetero und zusammen sind, glaube das aber nicht. Sie trinken Wein oder Schorle und ich trinke mein Bier. Man kommt ins Gespräch, wenn es auch nie wirklich eng wird. Sie sind nett und aufmerksam und locker und nicht so betrunken, wie andere mit der Zeit regelmäßig werden. Sie sind nicht immer da, Schauspieler arbeiten abends, kommen aber später noch vorbei. Ich bin Nachtmensch. Dazu, dass ich bei „Trivial Suit“ so viel weiß und was zum Goethe-Stück sagen kann, sagen sie nichts. Das kann auf keinen Fall normal sein in diesem Lokal, aber sie fragen nicht mal, was ich denn so mache. Vielleicht haben sie jemanden anderen gefragt.

Macht mich Ingo von eigentlich an, frage ich mich. Man merkt, allein schon, wenn man sich dergleichen extra fragen muss, kann es so wild nicht sein. Er ist einigermaßen jung und sieht akzeptabel aus und ist intelligent und höflich. Aber wegen all dem wird man nicht geil oder verliebt sich.

Anlässlich einer Inszenierung von Thomas Bernhards Stück „Am Ziel“ durch den (glücklicherweise) demnächst von hier scheidenden Intendanten imitiert Ingo von gekonnt den Vortrag des vom Ensemble nur „der Alte“ genannten Patriarchen, der bis zur Sommerpause im von ihm selbst inszenierten und verkörperten „Minetti“ ausgerufen hatte: „Überall habe ich gespielt! In Dinkelsbühl!“

Die Jungen im Bossa interessieren mich nicht. Sobald einer so alt ist, über 40 schon, und gleich neben ihnen sitzt, müssen sie tun, als wolle er über sie herfallen, hätte nur nicht den Hauch einer Chance. Das wird mit allerlei versteckten Andeutungen oder scherzhaften Hinweisen immer wieder neu signalisiert. Sie interessieren mich aber nicht, weil es sich um Gänschen handelt, die sich aufplustern, während ich längst nur noch für die unumwundene Hingabe des Körpers empfänglich bin, die sie mir nicht geben könnten, selbst wenn sie es wollten.

Ich komme neben einem, schätzungsweise, 22-Jährigen zu sitzen. Ich sage sogar mal was zu ihm, er auch noch zu anderen im Lokal. Er unterstreicht mit jedem Satz, den er spricht, dass er sich aus Langeweile mit mir abgibt. Irgendwann kommen wir auf die Discotheken der siebziger Jahre zu sprechen. Tatsächlich bin ich am Ende dieses Jahrzehnts fast so alt gewesen, wie er jetzt. Er sagt: „Dir dürfte nicht schwerfallen, dich zu erinnern, wie es dort ausgeschaut hat.“ Tut es allerdings doch, denn meine ganze Jugend über bin ich nicht ein einziges Mal in die Disco gegangen. Ein einziges Mal dann während meiner Wehrdienst-Grundausbildung in Lebach. Die Stubenkameraden gingen damals zusammen.

Ich bin ziemlich weit vom „Trivial Pursuit“-Automat, der Laden hat sich gefüllt und als ich ihm zeigen will, dass auch ich ihn nicht brauche, mich durch die Männer zum Spiel dränge, plärrt mein neuer Bekannter: „Lasst den jungen Mann doch mal bitte durch!“

Es vergehen drei Tage und ich sehe ihn am Nachmittag in der Fußgängerzone auf mich zukommen. Ich sehe ihn an, er nimmt mich nicht wahr.

Es vergehen noch paar Wochen. Irgendwann trinke ich so viel, dass Walter meint: „Du hast jetzt genug gehabt.“

Es wird zaghaft Frühling. Ich gehe am Bossa vorbei, wenn ich in den Park gehe. Eigentlich will ich immer mal wieder rein. Aber auf dem Hinweg finde ich interessanter, wer im Park sein könnte. Dann bin ich zu lange oben. Und wenn ich zurückkomme, ist es zu spät, ich bin zu müde.

Ich gehe nie mehr ins „Blue Bossa“. Etwa zehn Jahre danach machen sie zu. Es sei, hört man, so gekommen, weil die Behörde verlangt habe, dass ein zweiter Ausgang, ein Fluchtweg aus dem Keller, hätte gebaut werden müssen. Das konnten sie sich nicht leisten. Heute ist ein anderes Geschäft oben drüber und dass im Keller auch mal was war, lässt sich nicht mehr erkennen. Aus Ingo von ist kein Star geworden, aber er spielt noch, irgendwo anders.


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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